Kategorie: Biographisches

  • Wenn ich einmal gestorben sein werde,

    ….ist es zu spät, um zu tun, was noch zu tun wäre……gibt es kein Annähern mehr………gibt es meine Freiheit nicht mehr…..sind meine Wünsche nur noch anvertraut – anderen, und Buchstabe…..

    …..geschieht das, was andere geschehen lassen wollen……..geschieht das, was man als Lebender hofft, vielleicht vergebens, dass geschehen sollte…. 

    …..erwarte ich mir Leonard Coen, Cat Stevens, Hannes Wader, Roger Cocero, Sinead O’Connor, Mascha Kaleko, Rainer Maria Rilke…..erwarte ich mir kein Geheuchle und Gehudle, keine Schleimer, keine Heiligen……..

    ….darf es kein Geläute und Gebimmle geben….erwarte ich mir Feuer statt Moder…..erwarte ich mir keine Leute im Gleichschritt – nicht hintendrein, nicht vornedrein…….soll nur der hier stehen, der mir was zu sagen hatte, als es noch etwas zu sagen gab……..

    ….hat die Seele aufgehört zu wehklagen, zu frohlocken, zu hassen, zu weinen, zu fürchten………hat die Seele aufgehört zu lachen…..kehre ich in die unendliche Dunkelheit zurück…….

    ….hat mein Kopf aufgehört zu denken und zu konstruieren, zu verdrehen und zu lügen……habe ich aufgehört zu schwindeln, zu betrügen, ehrlich und unehrlich zu sein, liebevoll und bös……

    …..kehre ich nie mehr zurück. Nie mehr………

    …..gehe ich weg aus einer Welt, in der Diktatoren immer noch Kinder, Mütter und Papis wegbomben dürfen, ohne bestraft zu werden…….gehe ich weg aus einer Welt, in der viel von Gott geredet und im Namen Gottes gemordet wird.

    Wenn ich einmal gestorben sein werde,

    …kommt die bewusstlose Ewigkeit, von der die Kirche immer redet und redet und redet…….und es wird die Luftblase vom ewigen Leben zerplatzen – wie eine Seifenblase. Die ganzen Torturen werden sinnlos gewesen sein, die die Kirche über uns hat niederprasseln lassen.

    …muss ich mir nicht mehr die inhaltsleeren Aufrufe kirchlicher Oberhäupter zu Frieden und Toleranz anhören.

    …werden sich die Kirchenfürsten – vielleicht innerhalb der nächsten 1000 Jahre – schämen für das, was sie in der Welt angerichtet hatten – Hexenverbrennungen, Sexuelle Missbräuche, nicht zu vergessen der Umgang mit den Frauen und die Folter. Wie war das denn mit Giordano Bruno, den die Inquisition am 17. Februar 1600 mitten in der Stadt des Papstes auf dem Campo de’ Fiori verbrannte? Ich sollte als Bub meine sexuellen Gedanken beichten! Aber – die kriminelle Vergangenheit der Kirchenfürsten wurde totgeschwiegen. Ein Hohn!

    …werde ich es endlich hinter mir gelassen haben, dass es mir untersagt wurde, meinen Namen tragen zu können, den mir meine Eltern geben wollten. Zugegeben – ein vergleichsweise kleiner Machtexzess der Kirche, der mir aber zeitlebens zum Kotzen heilig war.

    Bis es soweit sein wird, dass ich mich verabschieden muss, ist es mir eine Ehre.

    Mascha Kaleko am Schluss: „Kapitel Eins beginnt mit dem Begräbnis, der Seele Letztes irdisches Erlebnis. Auf meines freue ich mich heute schon! – Da gibt es keine Trauerprozession.“

    Johann Georg, Hansjörg Rogger/2024

  • Der Besuch

    Alberta Pfeifhofer, Treitling 5

    Heißer Tee und Faschingskrapfen. Lange ist es her, dass ich schon mal hier war. Der Ofen ist es wohl, der mich zurück erinnern lässt. Die vielen Bilder im Gang gab es damals noch nicht – denk ich mal. Aber die Küche ist immer noch gerade aus, links daneben die Stube – mit dem alten weißen Ofen. 

    Ich blicke auf den Stapel del gemalten Bilder. Hinten steht der Titel drauf, nicht immer. Den Keilrahmen baut sie oft selbst. Viele schöne Bilder stehen da, und ich beginne meine Favoriten zu ordnen. Ich gehe nahe ran, nimm sie in die Hand. Mit Farbe dick aufgetragen die einen, die andern weich mit pastellenen Farben.

    Am Vorbeigehen hinauf in die Stube sehe ich Landschaften, viele Farben, viele Blumen. Und es blitzen die Sonnenblumen auf, auch der Mohn im Feld ist zu sehen. Starkes Rot, lichtdurchflutet. Parallelen zu Van Goghs Sonnenblumen, zu der impressionistischen Malerei von Monet.

    Der Farbton des Chors ist ein anderer als der der vielen anderen Bilder. Düster gehalten, die Stimmung melancholisch. Ich trete etwas von dem Bild zurück, zuerst halte ich es etwas vor mich hin. Und dann bleibe ich stehn und schaue es an. Es erinnert mich an früher und dann auch wieder an nicht so lang vergangene Zeiten. Alle blicken auf die in rot gekleidete blonde Frau – der letzte rechts draußen geknickt, etwas verschämt. Bilder sind nicht nur schön – Geschichten tauchen auf, Gerüche Töne und Lichter mischen sich dazwischen. Und ich sehe mich, mitten drin. 

    Ich schweife ab, es stehen so viele Bilder da. Ich darf mir eines aussuchen, hat sie gesagt. Und ich stelle es auf die Seite, vor die Tür zum Balkon. Während Alberta weitere Bilder herholt, sitzt Karl vor dem Ofen und schaut mir zu, wie ich das eine um das andere Bild nehme, vor mich hinhalte, und wieder in den Stapel zurücklehne. 

    Je mehr sie bringt, umso schwerer wird die Auswahl. Ein kleinformatiges pastellfarbenes im großen Rahmen ist auch dabei. Landschaft mit einem Zwei- , Dreihäuserdörfchen. Pastelltöne, leise, verschlafen. Schön! Ich stell es zur engeren Auswahl neben das Bild mit dem Chor.

    Es ist die Lust am Malen, sagt sie. Oft entstehe das Bild aus der momentanen Situation heraus. Blumen, Landschaften, Farben, Menschen, auch Tiere sind mit dabei. Die Farben mischt sie selbst, in vielen Kursen hat sie das gelernt. Alberta Pfeifhofer, Malerin, Treitling 5. Pinsel, Farbe, Spachtel, Holztafel, Leinwand, Aquarellpapier, PanArt – das sind ihre Werkzeuge. Gedanken in Farbe getaucht – das stand vor einiger Zeit in einer Rezension zu einer ihrer Ausstellungen. Und solche gab es viele.

    Drei Ansichten – ein Frauenakt. Es ist das größte der drei Bilder, die nun alle drei vor der Balkontüre stehen. Eines davon darf ich mit nach Hause nehmen. Das Bild mit dem Chor ist es dann – die Wahl kommt schnell. Etwas später wäre es anders ausgegangen. Erinnerung an meine Schulzeit, Erinnerung an meine jungen Jahre ergebnisloser Bemühungen, mit der Musik etwas beginnen zu können. 

    Bilder schaffen es, einen von sich selber wegzuziehen, oder einen in eine Geschichte hineinzuziehen – in eine gute oder in eine schlechte, in eine ganz weit zurückliegende oder in eine ganz nahe. Stehe ich vor dem pastellfarbenen Bild mit der Dorfidylle vorne rechts, bin ich in einer Geschichte, die mich wegzuziehen vermag – in meine Leidenschaft impressionistischer Fotografie hinein. Das Bild mit dem Chor zieht mich in die Vergangenheit zurück und der Akt in das verschmitzte Schweigen meines Vaters auf die verschmähenden Blicke meiner Mama.

    Hansjörg Rogger

  • Wenig aufbauende Pädagogik, damals in den 50er und 60er Jahren

    Und doch spüre ich immer wieder in die Zeit hinein, wo ich als Bub Lederhosen trug, wo ich Angst hatte um Menschen, die mir nahe standen, wo ich das rote Blechtretauto fahren konnte, wo ich auf die Mauer stieg, runterfiel und sich viele um mich mitleidsvoll kümmerten, wo ich gelitten hatte, und der Trost oft lange auf sich warten ließ. Wo ich eifersüchtig war, weil andere mehr Aufmerksamkeit hatten, wo ich nach Liebe buhlte und zu spüren bekam, dass andere besser waren, wo ich gelogen hatte, um der Strafe zu entgehen, wo ich auf der Ofenbank Schläge bekam, weil ich ungeschickt Honig verschüttet hatte und Milch als Notlüge gebrauchte. 

    Mein Mitleiden mit den anderen war nicht selten auch zorniges Mitleid, hasserfülltes Mitleiden. Im Kindergarten drückte ich mich meiner Spaziergehpatnerin fest in ihre Hand. Es muss ihr Schmerzen bereitet haben. Und mir auch. Ich mochte, dass sie mich spürt. Sie hat es nicht gezeigt, aber es muss grob gewesen sein. Und dann tat sie mir leid, weil sie hilflos wirkte. Ich hasste mich, weil ich mich an ihrer Hilflosigkeit und Verletzlichkeit gut fühlte – gleichzeitig war mir zum Kotzen schlecht. Ich kenn nicht mal mehr ihren Namen. 

    Schamlos habe ich meinen aufgestauten Frust bei anderen abgelassen. Und dann hasste ich mich dafür. Das Mitleid kam immer schnell und gewaltig. Einmal so, einmal anders. Ich wollte das Sanfte, erwartete mir viel, bekam es nicht, und dann kam der Zorn, die Wut, die Rache. Danach die Enttäuschung, die Scham. Auch das hat mir nie das gebracht, nach dem ich mich sehnte. Allein die Schuldgefühle pressten mir den Schweiß aus den Poren. 

    Erzählt habe ich niemandem davon. Schon gar nicht den Pfarrern, die gierig nach unseren Sünden lechzten. Ich habe hineingefressen was nun mal hineinzufressen ging. In der Schule war ich viel krank, Ich wollte oft krank sein. Es war dies das einzige Mal, wo ich Aufmerksamkeit bekam. Oft auch schimpfende Aufmerksamkeit. „Hast du wieder mal zu wenig aufgepasst!“ Jetzt war ich der „Hons“, der ich nicht sein wollte. Immer wenn man zornig mit mir war, war ich nicht mehr der „Hansjörg“. Ich tat so, als berührte mich das nicht, aber es tat weh.

    Lesen, schreiben und etwas rechnen hab ich gelernt. Parieren und immer tun, was die Damen und Herren Lehrer und die Pfarrer wollten – dafür war die Haselnussrute auf unseren Handrücken gut. Tat weh auf den ausgestreckten Fingern. Wenig aufbauende Pädagogik damals in den 60er Jahren.

    Johann Georg (Hansjörg) Rogger. Johann.rogger@me.com

  • R.K. und das Ungewöhnliche

    Es war eine andere Zeit. Computer waren noch elitär, zu finden in den Wörterbüchern, zu hören aus den Staaten über dem Ozean. Es sei was Amerikanisches, hat man schon viel früher verkündet. Und ganz langsam waren sie zu sehen als Hi-Tec-Dinosaurier in improvisierten Räumen. Computerräume wurden sie genannt; die ersten Möbel gab es zu kaufen. Groß, schwer und sehr teuer. Eine neue Zeit schien sich anzukündigen. ISDN-Internet, damals eine Revolution. Die sozialen Online-Netzwerke gab es nicht. Noch völlig unbekannt. Das Internet hat fast gar nichts mehr mit dem zu tun, was es heute ist. Spannend allemal. Man wähnte sich in der Zukunft, aber los ging es erst richtig jetzt.

    Die 80er Jahre. In der Schule war man sehr konservativ unterwegs. Viel zu reaktionär, rückwärtsgewandt. Und doch gab es Lust nach dem Ungewöhnlichen. Und das Gefühl, dass es so wie es ist, nicht bleiben kann. Hat Bert Brecht mal gesagt. Und Richards Aufbruch war keine Stimmung, er hat es getan. „Das Neue steckt schon in uns drinnen, wir müssen nur den Blick nach innen richten, um es auch zu sehen.“ Sagt der Literat Hermann Winkler. „Innovation braucht Ruhe zur Besinnung, Freude am Schaffen und Raum zur Entfaltung.“

    Kreieren, create , creare – ausklügeln, entdecken, entwerfen, erdenken, erklügeln, gestalten, generieren, austüfteln. Die Theoriebücher füllten sich mit innovativer Didaktik.

    Es fühlt sich an, als gebe es da noch etwas hinter den schönen Theorien. Etwas Besonderes machen, erzeugt immer Erinnerung. Mainstream ist langweilig und sehr flüchtig. Schriftliche Kommunikation im Mainstream geht gerade aus, ist linear, wenig nachhaltig, nicht spannend, nur auf Technik fokussiert. Es gibt keine spitzen Punkte, die fürs Leben von Bedeutung sein werden. 

    Für das Leben von Bedeutung? Man weiß es. Aber man hält sich nicht dran. Man wagt es kaum, aus der Dressur herauszukommen. Dressur ist das Antibiotikum – gegen das Leben gerichtet. Das Ausklügeln, Gestalten, das neu Generieren ist das Probiotikum – für das Leben, die Spannung, für das Geheimnisvolle hinter den Dingen. „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht?. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“ sagte 1952 Albert Einstein.

    Die Antiquiertheit des Unterrichts wurde ad acta gelegt – von Leuten wie R.K. – Assoziationen wurden gesucht. Je abstruser, umso effizienter; je verrückter umso nachhaltiger; je abgehobener, umso grandioser. Leidenschaft statt akademisch technisches Lehren. „Nüchtern besoffen sein.“ Der Wiener Schauspieler Otto Schenk hat das gesagt.

    Technisches Lehren fließt nicht. Es übt nur ein – sanktioniert und stresst. Automatisiertes Können ist gut, bleibt es aber isoliert, dann ist es zu wenig, zu abstrakt, ohne eine Wertebasis. Wenn aber technisches Lehren fließt, berührt, emotional assoziieren kann, dann gibt es Perspektive, Lust und Genugtuung. 

    R.Ks Intention: Die beiden Seiten der Münze sehen und deren Bedeutung generieren. Neu und alt; vorne stehen und nach hinten dozieren, dann aber den Spieß umdrehen – entdecken lassen.

    Der freundliche Begleiter – der Lehrer – die eine Seite der Münze. Die Autorität – die andere Seite. Die Synergie zu schaffen, das ist die Kunst.

    Es geht weit über das Sachziel hinaus. Musik, Film und das Neue, was sich am Horizont ankündigte – das alles kam dazu. Die Kombination ritzte Erinnerungsspuren ins Gedächtnis: Hausnachrichten, um ein Beispiel zu nennen. Abgeschafft mit dem Abgang von R.K. Alternativen sind nicht mehr nachgekommen. Es fehlt die Lust am Ungewöhnlichen. Assoziationsketten werden nicht mehr gesucht. Literatur und Musik war eine, Moderation im Nachrichtenstudio eine andere, Kreativer Umgang mit neuer und alter Technologie wieder eine andere. Die Fotokunst im Porträt eine weitere. Foto- und Videostudio die spitzen Punkte im Reigen des Ungewöhnlichen. „Alles was erlebt wird, hat Stempelgewalt“, sagt der 92jährige Wiener Schauspieler Otto Schenk. Das Erleben verhindert Flüchtigkeit und somit ein Abdriften in die Bedeutungs- und Wertlosigkeit.

    Nachdem das Digitale nach den 80ern Fahrt aufgenommen hat, schob sich auch der Film und der Filmschnitt in den Vordergrund. Eine Fundgrube für junge Leute, die den Perspektivwechsel von der analogen zur digitalen Welt mit offenen Armen begrüßten. 

    Der Ansporner ging synchron mit seinem Publikum. R.K. als Modell, Dozent, Handreichung für Gewohntes, Ungewohntes und Zukunftträchtiges. Der Dichter Jean Paul: „Was für die Zeit erzogen wird, das wird schlechter als die Zeit.“ Soll wohl heißen, dass gute Bildung immer „einen geistigen Überschuss, eine kleine utopische Verheißung“ enthalten muss. (In: „Die Welt“ 2018) 

    Johann Georg (Hansjörg) Rogger / zur Pensionierung des IT Lehrers Richard Kammerer / September 2022

  • Gepredigt, verordnet, weggenommen

    Es war ein Nachmittag. Warm war es, und sie saßen in der Küche beim Kaffee. Ich war ein Bub mit zehn Jahren. So wie wir das immer machten, wir radelten durch das Kaffeekränzchen durch, schrien, lachten und gingen den Kaffeetrinkern nicht selten auf die Nerven. An diesem Nachmittag war es etwas anders. Die Tür war zu und ich konnte von draußen hören, dass es um mich ging. „Wir wollten ihn ‚Hansjörg‘ taufen, aber der Pfarrer hat uns das verwehrt.“ Ich stoppte an der Tür und lauschte. In diesem Moment machte ich mir darüber keine Sorgen, wurde ich doch meistens mit dem Namen Hansjörg gerufen. Meistens! Die anderen Namen, Hansl und Hons gingen mir dermaßen auf die Nerven, dass ich laut aufschreien wollte, aber ich traute mich nicht. Dieser Nachmittag hat aber einiges in mir angefacht. Nicht sofort aber stetig und immer inwendig in mir drinnen. Wenn man es nicht so gut mit mir meinte, dann war ich der mit dem falschen Namen. Wenn ich den anderen wohlgesinnt war, dann war ich der mit meinem richtigen Namen.

    An diesem Nachmittag wuchsen langsam meine Zweifel an dem, was uns jungen Buben und Mädchen von der Kanzel heruntergepredigt wurde. Und der Zweifel wuchs zum Zorn heran. In mir selber, ganz tief in mir drinnen, sodass ihn niemand mitbekommen hat. Der Zorn auf jene Kirche, die mir einen Namen verwehrt hat, der mir zugestanden war. Aus Hansjörg wurde Johann Georg, weil es, so die Begründung des Pfarrers, keinen heiligen Hansjörg gibt. Und wie gesagt, man machte daraus nicht selten jene verkorksten Bezeichnungen, die mich ein ganzes Leben lang nicht in Ruhe ließen. Wer bin ich? Wer will ich sein? Auf den Amtspapieren, in den Ausweisen hieß ich Johann Georg, als Hansjörg wollte ich gerufen werden.

    Die Kirche hat mich in eine Identitätskrise getrieben, aus der ich nicht mehr herausgekommen bin. Kling dramatisch, aber es war nun mal so. Und dabei sollte es die Kirche sein, die das Heil verkündet. Davon ging ich immer aus.

    Den Zorn wollte ich oft herausschreien, aber es ging nicht, ich war zu feige, ich traute mich nicht; die Revolutionen habe ich nur in meinem Kopf ausgefochten, mit mir allein. Ich traute mich nie, offen gegen etwas einzutreten. Dies hätte mir voraussichtlich Nachteile einbringen können, so dachte und fühlte ich. Aber inwendig, da ging es immer zur Sache. Endlos die Situationen in denen ich gekocht hatte.  Nie oder selten hatte ich gewagt, den Deckel zu öffnen, aus Opportunismus, aus Schwäche, aus Feigheit, aus Angst – stimmt alles. Es war einfach so. Es ist mühsam,  nach den Gründen zu fragen, mühsam zu fragen, warum ich mich meiner Gedanken schämte.

    Wenn die Institution Kirche es schafft, dass man ein Leben lang der Identität hinterherlaufen muss, dann muss an dieser Institution etwas faul sein. Seit diesem Nachmittag zweifle ich an der Glaubwürdigkeit kirchlicher Heilsversprechen. Und die Zweifel wuchsen mit den aufgedeckten Verbrechen, die die Kirche zu vertuschen suchte.

    Johann Georg alias Hansjörg Rogger, 2021

  • 40 Jahre danach geboren

    1954 wurde ich in ein Dorf hineingeboren, das nicht müde war, darauf zu vertrauen, dass nicht noch ein dritter Krieg das ganze Leid wieder von vorne beginnen lässt. Man baute auf die Vernunft einer neuen Generation. 

    Das Tretauto war aus Blech geschnitten, rot lackiert – mein Begleiter in den jungen Jahren. Mehr als 40 Jahre nach dem ersten großen Krieg, 20 Jahre nach der 2. Katastrophe. Vor der Haustür ein schmaler, staubiger Weg, kein Asphalt. Platz genug für mein Tretauto. Heute hat da kein Spielzeug mehr Platz. Als Sandwich geboren, viele Male von hinten und vorne zerdrückt, aber mein rotes Auto tat immer das, was ich wollte. Meinen Zorn bekam es zu spüren, auch meine Zärtlichkeit. 

    Es gab nur diese eine enge Welt: Mama, Papa, Opa und mich, eingeklemmt zwischen Bruder und Schwester. Folgsam sein war das Gebot der Zeit. Gehorsam, unterwürfig und selbstverständlich katholisch. Sonst drohe die ewige Verdammnis. So wurde oft genug unser kleines Gehirn auf Linie gebracht. Die Hölle tat noch ihr übriges. War man nicht so auf Linie, dann war man der Luthrische. Papst- und Kirchentreue standen ganz oben an, zumindest offiziell. Vieles war schon damals sehr viel Schein. Gott, Kaiser und Vaterland hatten einen Knick bekommen. „Verlassen ganz von Gott und Kaiser Franz“ Irgendwann viel später hatte ich verstanden, dass das ganze Leid, alle Toten umsonst waren. Man kämpfte für das Vaterland Österreich, führte Befehle aus, auch strategisch miserable, wähnte sich Gott und den Kaiser hinter sich, und am Ende waren viele Leben zerstört, das Recht auf Leben viele tausend Male missachtet, junge Menschen als Kanonenfutter missbraucht. Ein paar Mythen verhübschten das Elend, und die Mächtigen übten sich in der Glorifizierung der toten Helden. Die, die Glück hatten und überlebten, bekamen Tapferkeitsmedaillen. Frauen, Mütter und Kinder, denen man ihre Männer und Väter weggeschossen hatte, büßten für etwas, wofür sie nichts konnten. Die Brandstifter saßen dort, wo keine Granaten und Gewehrsalven zu befürchten waren. An dieser Rollenverteilung hat sich bis heute nichts, aber schon gar nichts verändert; man denke an den Herrn Assad in Syrien, an Herrn Putin in Russland, ganz zu schweigen von Lukaschenko in Belarus, den Generälen in Myanmar, Xi Jinping in China usw. Die „Kaiser“ triumphieren oder sie triumphieren nicht – egal, die Untertanen haben zu gehorchen. Und sie haben zu schießen und zu sterben, wenn man es ihnen befiehlt.

    Gewaltsames Sterben muss grausam sein. So dachte ich lange bevor ich erwachsen war, als junger Bub. Es ist alles vorbei. Nie wieder gibt es die Hoffnung, nie wieder die Sehnsüchte, die Träume. Ausradiert! Claus Gatterer schreibt in seinen Tagebüchern: „Er (der Tod) ist nicht süß, wie’s im Gedicht heißt…Das Vaterland wirft seine Söhne ins Massengrab – und oft genug den Raben zum Fraß vor.“ Gewaltsames Sterben vor 100 Jahren ist um nichts ein anderes als es heute ist. Ist es tatsächlich Vorsehung, wie Luise Rogger 1914 ihrem Mann an die Front in Galizien schreibt: „…Wie es die göttliche Vorsehung bestimmt hat, so wird es kommen….für den einen Leben, für den anderen der Tod“ Ebenso ist es 100 Jahre her, dass Josef Tschurtschenthaler, von der Russenfront weit im Osten nach Hause schreibt: „….Bei Tag und Nacht, ohne Ruhe, immer das Sausen der Kanonen und Gewehrkugeln in den Ohren. Da schaut es ganz schrecklich aus. Drum, oh Gott, bewahre vom Kriege.“ Mittlerweile weiß ich, dass es nicht Gott ist, der uns vor Krieg bewahren kann. Das müssen wir Menschen schon selber tun.

    Der Kindergarten war schön, aber das obligatorische Nachmittagsschläfchen mochte ich absolut nicht: sitzend auf dem Stuhl vor dem Tisch, den Kopf in die verschränkten Arme gelegt und: „Jetzt wird geschlafen!“ In der Volksschule habe ich viel gelernt, sehr viel über unser schönes Land; aber über die Welt und die traumatischen Geschichtserreignsse war viel zu wenig dabei. Es stand nicht in den Lehrplänen, und Bücher dazu gab es sowieso keine. Nicht so erfreut waren wir, wenn man uns Buben und Mädchen in der Klasse an den Haaren gezogen hatte und der eine und die andere in die Ecke gehen musste, ich auch – in die Büßerecke – grauenhaft! Wenn uns Frau Lehrerin mit dem Haselnussstöckchen, meistens mehrere Schläge auf die ausgestreckten Finger draufgab, erfuhren wir Buben und Mädchen wie Linientreue auszusehen hat. 

    Wenn daheim von den beiden Kriegen gesprochen wurde, dann gab es in meinem Kopf ein höllisches Durcheinander. Mein Opa hat den 1. und 2. Krieg durchleben müssen, mein Vater und meine Mutter den 2. Was war vor 40 und was vor 20 Jahren? Ich konnte es nicht auf die Reihe bringen; ein Kuddelmuddel in meinem Kopf, mehr nicht. Ganz selten kam mein Opa mit einem Bild aus seinem Fotoalbum: 1915 – ein zerbombtes Sexten. 1923, so habe ich dies erst viel später realisiert, hat man den Abschluss des Wiederaufbaus gefeiert. Gern kramte Opa in jener Schublade im Wohnzimmer in der, schön gebündelt, die wertlosen österreichisch/ungarischen Kronen lagen. Oft brummte er gut hörbar vor sich hin, manchmal etwas lauter: „Wir haben für dieses Österreich, für diesen Kaiser gekämpft – alles umsonst, verpufft, verraten, in Stich gelassen.“ Wenn er schlecht drauf war, klang es sehr aggressiv, wenn es ihm gut ging, war zurückhaltende Ironie zu spüren. Und er konnte darüber sogar lachen, aber auch fluchen und aufbrausend schimpfen. 

    Damals war aber mein Tretauto auf der Straße vor dem Haus viel wichtiger als die alten Geschichten. Mitbekommen habe ich sie schon, verstehen und mir einen Reim daraus machen, das konnte ich damals nicht oder nur sehr bruchstückhaft. Wollten wir Kinder mal was nachfragen, was so häufig gar nicht war, dann hieß es, dass wir das sowieso nicht verstehen würden. Ok, dann ging ich wieder zu meinen Legos und zu meinem Tretauto. „Das verstehst du nicht“, „du bist noch grün hinter den Ohren“, haben mir meine Spielsachen nie zugeflüstert. Sehr wohl verstanden hatten wir junge Buben und Mädchen die ständigen Hinweise auf den sparsameren Umgang mit dem, was auf den Mittagstisch kam. „Hätten wir das damals im Krieg gehabt, was ihr da in den Müllkübel werft, wir wären glücklich gewesen.“ Das war schon nervlich, was wir Buben und Mädchen immer und immer wieder zu hören bekamen. Verstanden habe ich es aber erst viel später.

    Es ist seit diesen Tagen sehr viel Zeit vergangen, und aus heutiger Sicht betrachtet, waren meine Eltern und mein Opa auch nicht gerade erpicht, über diese grauenhaften Jahre nachzudenken und zu sprechen. Sie hatten überlebt, und es war ihnen ein Gräuel, uns Kindern zu erzählen, wie es ihnen ergangen ist. Wie gesagt, Anlässe, danach zu fragen gab es nicht. Wenn wir mal zu fragen probierten oder wenn sich Fragen aufdrängten, weil die Großen unter sich doch hin und wieder Vergangenes aufblitzen ließen, dann war dies, wie bereits gesagt, nicht so recht angebracht, oder die Antworten waren so kompliziert, dass man tunlichst weiteres Nachfragen vermieden hatte. Und überhaupt, wieso sollten wir Kinder so viel danach fragen? Wir hatten doch alles, was wir brauchten. Wir freuten uns sogar auf unser Ausweichquartier im Sommer, wenn die Fremden unsere normalen Schlafkammern besetzten. 

    Ich konnte mir nur sehr zaghaft einen Reim darauf machen, was Krieg bedeutet, was Frauen, Männer und Kinder erleiden mussten, was es heißt, seine Heimat verlassen zu müssen, was es bedeutet, sich vor den Granaten zu verstecken, was es heißt, dass junge Burschen, Väter und Verliebte oben in Schnee und Eis gefallen sind. Also hatten die Großen wohl darin recht, zu behaupten, das würden wir ja sowieso nicht verstehen. Oder sie wollten uns vor den Traumata bewahren und uns für eine heilere Welt vorbereiten. Ich bin mir nicht sicher, was vernünftiger hätte sein können.

    1965 jährten sich die schicksalhaften Ereignisse zum 50. Mal. Ich war 11 Jahre jung. Inwendig in meinem jungen Kopf hat sich viel getan. Nach außen hin durfte nicht viel gezeigt werden. Wenn man laut über Dinge nachdachte, die nicht der öffentlichen Moral entsprachen, musste das „Maul gehalten“ werden. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – Mamas Worte. Am 4. Juli 1965 hat der Sender Bozen einen Bericht ausgestrahlt, in dem mein Opa die Geschehnisse um den Tod von Sepp Innerkofler repetierte. Mein Opa war als 17jähriger Bub bei dieser fliegenden Patroullie um Sepp Innerkofler mit dabei. Man stelle sich das mal vor: ein 17jähriger Bub ganz vorne an der Front, wo getötet wurde. Hätte es ihn auch erwischt, wir hätten einen Heldentoten mehr, aber viele Leben weniger. Mit einem alten Tonbandgerät hatte ich damals 1965 dieses Interview aufgezeichnet. Ich hütete dieses Band, als sei es mein bester Freund. Lange Zeit schien ich es vergessen zu haben. Dann nach vielen Jahren kramte ich es wieder heraus und setzte alles daran, es auf ein neues Format zu bringen. Die Cassette lief und lief, bis ich begriff, was ich als 11jähriger nicht verstehen konnte. Das Land schuf sich einen Mythos, einen Heldentod, der massive strategische Fehler kaschieren und vergessen lassen sollte. Machpolitik versagte auf erbärmliche Weise.

    Eltern haben es den Schulen überlassen, uns die Bitterkeit der vergangenen Jahre zu erzählen. Zu hören bekamen wir aber dort vorwiegend die frühe Geschichte unserer Vorfahren. Und dies in einer permanenten Endlosschleife von sechs bis hinauf zur Oberschule. Man wollte nicht, oder man traute sich nicht. Die Schauplätze waren viel zu nah und deshalb viel zu gefährlich, sich auf Unangenehmes und Widersprüchliches einzulassen. Da ist es wesentlich einfacher, die ferne Geschichte, die keinem mehr weh tut, vermitteln zu wollen. Steinzeit, Bronzezeit, von den Anfängen bis herauf zum aufrechten Gang und zum Homo sapiens. Meisterhaft, wie die Geschichte der unmittelbareren Vergangenheit auf die Seite geschoben wurde. Zumindest fühlte ich mich irgendwann später, in meinen nicht mehr so jungen Jahren in dem Gefühl glücklich geborgen, dass Europa so etwas in Zukunft verhindern kann. 

    Rogger Hansjörg, 2021