Drei Jahre Krieg, zehntausende Tote, Millionen auf der Flucht – und noch immer sitzen manche im Westen mit erhobenem Zeigefinger in ihren warmen Wohnzimmern, nippen am fair gehandelten Kaffee und raunzen über „die NATO-Provokation“. Sie applaudieren einem imperialen Vernichtungsfeldzug, als ginge es um ein geopolitisches Planspiel – nicht um Morde, Folter, Deportationen. Ihre Solidarität gilt nicht den Opfern, sondern dem Aggressor. Und dabei berufen sie sich auch noch auf „Prinzipien“, „Werte“, „Recht“.
Besonders beliebt: das Eigentumsrecht. Doch wehe, man erinnert sie daran, dass genau dieses Recht – das sie angeblich verteidigen – gerade mit russischen Raketen in Schutt und Asche gelegt wird. Dass die Ukraine nicht nur Häuser verliert, sondern Land, Menschen, Geschichte. Dass Eigentum dort nicht enteignet, sondern geraubt wird. Und zwar mit brutaler Gewalt, nicht etwa unter Zuhilfenahme rechtlich fundierter Prinzipien.
Man stelle sich vor: Ein Panzer rollt vor ihr Haus, Soldaten stürmen rein, besetzen den zweiten Stock und hängen eine ihnen fremde Fahne aus dem Fenster. Kein Vertrag, kein Gericht, keine Entschädigung. Einfach so. Und wenn der Widerstand kommt, werden Kinder als Schutzschilde benutzt, deportiert, werdende Mütter ermordet und wahllos niedergeschossen, was ihnen in die Quere kommt. Willkommen im Spiegelkabinett der Doppelmoral.
Und was sagt eigentlich Russlands eigene Verfassung dazu? Überraschung: Sie kennt das Eigentumsrecht. Artikel 35 – jeder darf besitzen, niemand darf willkürlich enteignet werden. Nur mit Gesetz, nur im öffentlichen Interesse, nur mit fairer Entschädigung. Artikel 36 – Grundbesitz, ja. Aber nicht gegen das Allgemeinwohl. Ein schöner Text, ein hübsches Deckmäntelchen für einen Staat, der ihn täglich zerreißt.
Denn was tut der Kreml seit 2014?
Raubzug auf der Krim – ohne Recht, ohne Maß, ohne Scham. „Gesetz“ wird nach Bedarf zurechtgebogen – oder einfach ignoriert. Die Ukraine hat völkerrechtlich verbrieftes Eigentum – das wird mit Panzern niedergewalzt. Das „Allgemeinwohl“ stirbt in Butscha, Mariupol, Charkiw, Kiew usw. usw
Diese russische Verfassungsrealität, die Betonung liegt auf „Realität“, ist eine Farce – sie ist eine Kriegserklärung an das Recht selbst und wird zur Makulatur. So wie es im Roman von Orwell steht: alles ist gleich, aber manche sind eben gleicher. Und wer im Westen glaubt, das alles mit geschlossenen Augen hinnehmen zu können, spielt Komplize.
Und während der Kreml seine eigenen Gesetze in der Pfeife raucht, klatschen manche im Westen immer noch höflich Beifall. Man fragt sich, was schneller geht: das Umdrehen der Werte oder das Ausblenden der eigenen Doppelmoral. Nur eines ist sicher: Wer heute noch glaubt, das Eigentum anderer sei verhandelbar, sollte sich nicht wundern, wenn morgen jemand an die eigene Tür klopft. Nicht zum Reden. Sondern zum Nehmen.
Hansjörg Rogger