Ich kann für mein Handeln alles Mögliche verantwortlich machen: meine schwierige Kindheit, meine Eltern, meine Lehrer*innen oder meine unerfüllten Kindheitswünsche. Doch all das ändert nichts daran, dass ich schuldig bin, sobald ich jemandem – in welcher Form auch immer – Schaden zufüge. Meine Erlebnisse mögen mein Verhalten relativieren und für mich selbst erklärbar machen, nicht jedoch für die Person, die mein Tun ertragen musste.
Ob Diskriminierung, Herabwürdigung oder Bevormundung – all das sind Übergriffe, die niemals auf Augenhöhe stattfinden. Nur echte Augenhöhe hat das Potenzial, autokratischen Tendenzen – und damit Diskriminierung – etwas entgegenzusetzen. Diskriminierung befeuert Autokratie, und Autokratie ist wiederum der Nährboden für Ungerechtigkeit. Wenn wir nicht wachsam sind, schleichen sich diese Tendenzen in unsere gesellschaftlichen Strukturen ein und vergiften sie von innen heraus: Befehle und Anordnungen ersetzen Auseinandersetzung und Kompromissbereitschaft. Wie Metastasen zerstören sie unser Rechtsverständnis, unsere Debattenkultur, unsere Angstfreiheit und unsere Vielfalt.
Unsere Gesellschaft läuft Gefahr, die Blase des Verstehen-Wollens auf Kosten der Opfer immer weiter aufzublähen. Täter*innen verstecken sich gern hinter autokratischen Machofassaden. Doch die #MeToo-Bewegung zeigt, dass es Hoffnung gibt: Diese Fassaden bröckeln. Die Blase, in der sich Machos – welchen Geschlechts auch immer – sicher fühlten, wird durchsichtig; an manchen Stellen kommt es zu heftigen Eruptionen. Genau diese braucht die Gesellschaft – von der Familie über die Schulen (vor allem die Schulen!) bis hinein in Kirche und Politik. Nur so haben demokratische Systeme, die derzeit immer stärker unter Druck geraten, eine echte Chance.
Man bedenke: Weltweit gewähren nur rund 22 % der Staaten ihren Bürger*innen umfassende demokratische Rechte. Der große Rest lässt keine „Eruptionen“ zu – nichts von dem, was wir in Europa als demokratische Grundrechte schätzen. Dort wachsen die Blasen weiter, werden dichter, größer und undurchsichtiger. Augenhöhe existiert nicht mehr, Diversität schon gar nicht. Inklusion verkommt zum Fremdwort, allenfalls gut aufgehoben in Spracharchiven.
Johann Georg (Hansjörg) Rogger
Publizist