Aktionismus ist auch in der Bildungspolitik fehl am Platz

„Testen, fördern und verpflichten“ – so titelte die Dolomiten (6.–8. Dezember 2025). Ein Jahr lang haben SVP-Mandatare über Maßnahmen zur Sprachförderung beraten, um den „unzureichenden Deutschkenntnissen im deutschen Bildungssystem entgegenzuwirken“ (ebd.).

Doch was gilt hier eigentlich als „unzureichend“? Was können Schülerinnen und Schüler im Jahr 2025 angeblich nicht mehr, was ihnen die PISA-Studie 2018 noch attestiert hatte? Handelt es sich einmal mehr um politisch-ideologisch gefärbte Panikmache – oder schlicht um zugespitzte Schlagzeilen wie „Der Zustrom ohne Deutschkenntnisse gefährdet Südtirols Bildung“ (Unser Tirol.com, 22.11.2025) In den sozialen Medien finden sich solche und ähnlich dystopisch zugespitzte Aussagen – scharf, emotional und kaum differenziert. Eine klassische Panikmache oder doch Realität?

Laut PISA 2018 lagen die deutschsprachigen Schulen Südtirols auf hohem Niveau: Während der OECD-Durchschnitt 487 Punkte erreichte, kam Südtirol auf signifikante 505 Punkte – und lag damit vor Deutschland, der Schweiz und Österreich. Für PISA 2022 liegen bislang keine detaillierten Auswertungen vor. Die verfügbaren Daten zeigen jedoch, dass Südtirol in der Lesekompetenz weiterhin über dem OECD-Durchschnitt liegt, auch wenn der Abstand geschrumpft ist. So berichtete das Presseamt des Landes am 6.12.2023 zu PISA 2022: „Bei der Lesekompetenz erreichten die Jugendlichen an den deutschen Schulen 489 Punkte. Das Ergebnis hebt sich weder statistisch signifikant vom OECD-Durchschnitt (476 Punkte) noch vom Mittelwert für Italien (482 Punkte) ab.“ Im internationalen Vergleich reiht sich Südtirol damit auf Platz 15 ein – gemeinsam mit Dänemark, Polen und Tschechien. Finnland liegt knapp davor, Taiwan auf Platz fünf, Estland auf Platz sechs. Spitzenreiter ist Singapur.

Vom internationalen PISA-Programm zur nationalen Lernstandserhebung 2024/25: „In der Unterrichtssprache Deutsch erreichen knapp 72 Prozent der Mittelschülerinnen und Mittelschüler den Mindestanforderungsbereich, in der Oberstufe sind es 83 Prozent. Im Vergleich zu den Vorjahresdaten sind keine nennenswerten Veränderungen festzustellen“ (News Presseamt der Autonomen Provinz Bozen / https://deutsche-bildung.provinz.bz.it/de/evaluation) Die Zahlen zeigen somit insgesamt stabile Befunde.

Dennoch werden diese Befunde politisch häufig fehlgedeutet. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die Zusammensetzung der Schülerschaft in den vergangenen Jahren deutlich verändert hat: Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern mit Migrationsgeschichte stoßen zunehmend an ihre pädagogischen Belastungsgrenzen – und teils darüber hinaus. Einige politische Akteure nutzen diese Entwicklung populistisch, statt sie sachlich einzuordnen. Verstärkt wird diese Verzerrung durch die Algorithmen sozialer Medien, die solche dystopischen Narrative begierig aufgreifen und weiter zuspitzen.

Missverständnis 1: „Die einheimischen deutschsprachigen Kinder können immer schlechter Deutsch.“

Die vorliegenden Daten differenzieren nicht nach Herkunftssprache. Sinkende Gesamtergebnisse lassen daher keinen Rückschluss darauf zu, dass die Kompetenzen einheimischer Schülerinnen und Schüler zurückgegangen wären; vielmehr spiegeln sie vor allem die veränderte Zusammensetzung der Schülerschaft wider. Werden Lerngruppen heterogener, verschieben sich statistische Mittelwerte zwangsläufig – ohne dass dies etwas über die individuelle Leistungsentwicklung einzelner Gruppen aussagt.

Für eine faire Interpretation müssten die Ergebnisse innerhalb der jeweiligen Gruppen differenziert betrachtet werden, etwa zwischen einheimischen Kindern, Migrantinnen und Migranten, die seit mindestens fünf Jahren in Südtirol leben, sowie Neuankömmlingen.

Ein Beispiel verdeutlicht den Effekt: Einheimische deutschsprachige Kinder erreichen in der Regel Mindeststandards zu etwa 90–95 %. Migrantenkinder, für die Deutsch eine Zweit- oder Drittsprache ist, liegen dagegen häufig nur zwischen 40 und 60 %, abhängig von Herkunft, Aufenthaltsdauer und bisheriger Schulbildung.

Missverständnis 2: „Inklusive Maßnahmen schaden den einheimischen Kindern.“

Die deutschen Schulen übernehmen heute Aufgaben, die es in dieser Dichte früher kaum gab: die systematische Förderung von Deutsch als Zweitsprache, die Alphabetisierung in einer für viele Kinder nicht familiären Sprache, die Integration von Schülerinnen und Schülern ohne vorherigen Kindergartenbesuch sowie eine umfassende sozialpädagogische Begleitung. Diese zusätzlichen Anforderungen binden erhebliche personelle und zeitliche Ressourcen und verändern den schulischen Auftrag grundlegend.

Eine häufig zitierte internationale Studie („Effects of inclusion on students with and without special educational needs“, Ruijs & Peetsma, 2009) kommt zu dem Ergebnis, dass inklusiver Unterricht überwiegend neutrale bis leicht positive Effekte auf die schulischen Leistungen hat. Die empirische Evidenz spricht damit – zumindest in vielen untersuchten Kontexten – gegen die Annahme, dass Schülerinnen und Schüler ohne Förderbedarf durch Inklusion leistungsmäßig benachteiligt würden. Entscheidend ist vielmehr die Qualität der Umsetzung: Wo ausreichend Unterstützung, differenzierter Unterricht und professionelle Begleitung vorhanden sind, profitieren alle Lernenden nicht nur einzelne Gruppen. Das Lernklima insgesamt profitiert und mit ihm die Motivation und die Freude an der Leistung.

Zentrale Quellen, die keine Leistungsminderung festgestellt haben:

  • OECD 2015: Immigrant Students at School
  • National Bureau of Economic Research, 2017: Unwelcome Guests? The Effects of Refugees on the Educational Outcomes of Incumbent Students.
  • World Bank Group, 2018: The Effect of Immigrants on Natives’ School Achievement.
  • Europäische Kommission, 2019: The Effect of Non-Native Pupils on Natives’ Learning: Evidence from the EU
  • http://www.ifo.de: „i bambini locali non hanno mostrato alcun effetto negativo dovuto unicamente alla percentuale di migranti; al contrario, il loro rendimento ha beneficiato del livello generale di rendimento della classe.“
  • http://www.svr-Migration.de / Der Sachverständigenrat für Integration und Migration Berlin stellt 2024 in seinem Forschungsbericht folgendes fest: „Bei vergleichbarem sozioökonomischen Hintergrund und ähnlicher Sprachkompetenz werden keine nennenswerten Leistungseinbußen für einheimische Kinder nachgewiesen, wenn der Migrantenanteil steigt.“
  • Eine große Studie in den USA mit 1,3 US einheimischen Schüler:innen (www.education.week) stellt folgendes fest: „“Our study puts the lie to the narrative that immigrant kids bring your classroom down,” Figlio said. “We looked at all sorts of different subgroups. We never found any evidence of a negative. The worst-case scenario we found for native-born students was a zero effect, that more immigrant kids in the classroom didn’t hurt or help. But the prevailing evidence we found was that immigrant students help.”

Die Schülerschaft ist zunehmend heterogen. Das Bildungssystem steht damit vor wachsenden Integrations- und Sprachförderaufgaben, auf die die Politik zu reagieren hat. Die Reaktion, Lernstandserhebungen bei Vierjährigen einzuführen trägt nicht zur Lösung bei; Erzieher:innen und Lehrer:innen wissen längst, was notwendig wäre. Schlagzeilen, die das „Ende der deutschen Sprache“ heraufbeschwören, sind kontraproduktiv und unverantwortlich.

Zu den Lernstandstests, wie sie bekanntlich von den SVP Mandatsträgern vorgeschlagen werden, gibt es auch in Deutschland kontroverse Debatten.

In einem Streitgespräch warnt Rahel Dreyer, Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie an der Hochschule Berlin: „Ich halte es für absolut schädlich, in dieser Situation auch noch Misstrauen gegenüber der Professionalität des Kitapersonals zu säen“ (Die Zeit, Nr. 52, 4.12.2025, S. 31). Auf den Vorschlag von Petra Stanat, Leiterin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, verpflichtende Sprachtests einzuführen, entgegnet Dreyer: „Ich bin skeptisch, ob die Vermessung der Kinder die Lösung ist, Tests allein helfen nicht weiter.“ Sie verweist zudem auf die Aussage einer Erzieherin: „Wir sehen den Bedarf der Kinder, wir wissen, was wir tun müssen. Aber wir schaffen es nicht.“

Ein Blick nach Singapur, Taiwan, Australien oder Finnland zeigt, wie Bildungssysteme trotz hoher Belastung stabil bleiben können: Lehrkräfte genießen dort ein hohes gesellschaftliches Ansehen. „Teaching is a professional career path on par with other high-skill industries. With stronger incentives in place, more top-tier graduates may now consider joining the education workforce.“

In der aufgeheizten Debatte in Südtirol geht es darum, mehr Gehör und Wertschätzung zu erlangen. Dass daraus medial der Schluss gezogen wird, die Schule schlittere am Rande einer Krise vorbei, dient der Sache keineswegs.

Wie könnte Südtirol ähnliche Rahmenbedingungen schaffen und dafür sorgen, dass sich Lehrkräfte wieder mehr wertgeschätzt und wohler fühlen? Finnische aber auch Taiwanesische Beispiele verweisen auf zentrale Bausteine, die auch hier richtungsweisend sein könnten:

  • Vertrauen statt Kontrolle
  • Wenige verpflichtende, standardisierte Tests
  • Ausreichend Zeit für Vorbereitung und individuelle Förderung
  • Gute Arbeitsbedingungen mit vielfältigen Tätigkeitsfeldern innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers
  • Einsatz spezialisierter Unterstützungskräfte
  • Ein klarer Fokus auf das Wohlbefinden der Lerher:innen und Schüler:innen
  • Ein Lehrberuf mit gesellschaftlichem Prestige
  • Niederschwellige Beratungsangebote für Lehrkräfte und Lernende
  • Schulleitungen, die moderieren, begleiten und zuhören
  • Eine Politik, die sich vor Ort für die Belange der Schulen interessiert – und zuhört
  • Fehler gelten eher als Lernchance, denn als persönliches Scheitern (Taiwan)
  • Eine Besoldung, die europäischen Standards entspricht

„Wir wissen, was zu tun ist.“ Jetzt braucht es politische Verantwortungsträger, die zuhören und die bestehenden Probleme sachlich, ohne Aktionismus, angehen. Der Philosoph Karl Popper erinnerte daran: „Es ist unsere Pflicht, uns für jene Dinge einzusetzen, die die Zukunft besser machen können“ (Popper, 1994).

Probleme müssen gelöst werden. Ein Blutdruckmessgerät zeigt ein mögliches gesundheitliches Risiko an, behebt es jedoch nicht. Ebenso machen Tests Probleme sichtbar – sie lösen sie nicht.

Hansjörg Rogger