Durch den Einschnitt im Frühjahr, als die Bildung andere Wege zu gehen hatte, gab es von Schüler*innen und Eltern, nach anfänglicher großer Skepsis, Überraschendes zu hören. 143 Schüler*innen haben sich in 572 Einträgen zu Wort gemeldet: Jetzt sind wir zum ersten Mal selbst gefordert; ich war gezwungen, mir die Tage präzise zu strukturieren; ich musste präziser lernen, um präziser Fragen stellen zu können; ich vermisse das Vis a Vis mit den Lehrern; es tut gut, nicht immer alles angeordnet zu bekommen; wie einfach war es doch, nur warten zu müssen, bis der nächste Auftrag kommt; cool, ich kann endlich selbst entscheiden, was und wie lange ich heute lernen will; es war so ruhig in der Videokonferenz, es gab keine Seitengespräche, keine Störer und Chaoten, wenn ich wollte, konnte ich zuhören, mich störte niemand mehr; meine Lehrer waren super, meine Lehrer waren für mich da; es war super, dass wir uns zumindest über Videokonferenzen sehen konnten; es gab Lehrer, die das mit den Konferenzen nicht so gerne machten, und wir auf der Suche nach ihnen waren; es gab in dieser Zeit sehr viel zu tun; anfangs gab es zu viele Plattformen, dann als MS Teams kam, ging es sehr gut; mit den Videokonferenzen schwand mein Datenkontingent dahin, ich musste bei den Spielen anfangen zu sparen; ich möchte so gerne wieder in die Schule, die Freunde gehen mir ab; ich konnte mehr lernen, weil ich nicht so angespannt war; ich bin eigentlich ruhig, weil ich weiß, dass diese Situation nicht endgültig ist; am Anfang war der Druck der Lehrer schon schwer auszuhalten, viele meinten halt, ihr Fach sei das wichtigste; es tut gut, zu wissen, dass da draußen jemand ist, der sich unsere Sorgen und Nöte anhört, usw.
Der Einschnitt im Frühjahr hat gezeigt, dass der geradlinige Verlauf der Welt eine Illusion ist. Irgendwann kommt der Schnitt und da werden wir auch nicht danach gefragt, ob uns das passt oder nicht. Ein Virus kennt kein demokratisches Prinzip, wir haben uns da gefälligst anzupassen. Entweder wir strengen unseren Grips an oder nicht. Dem Virus ist das völlig wurscht. Wir sind es, die es in Griff bekommen wollen.
3 1/2 Monate Ausnahmezustand im Bildungssystem und schon geht einigen in unserem Europa das Recht auf Bildung ab. Eine populistisch schreierische Position; müsste man es doch besser wissen – wenn man es wissen wollte – dass nicht mal 3000 Kilometer von uns entfernt Lebens-Notstand herrscht. Purer Sarkasmus, denn dort haben viele gar nicht die Kraft, sich ein Bild über das zu machen, was Bildung bedeuten könnte. Im Flüchtlingslager auf Lesbos leben Kinder, die noch nie eine Schule gesehen haben. Und nicht einmal 1.500 Kilometer entfernt, dort wo Regierungen sich um nichts als um sich selber kümmern, müssen Tausende zuerst mal schauen, überleben zu können. Sein oder nicht sein ist dort viel zu oft das existenzielle Bildungsziel. Geduldigeres Nachdenken hier bei uns wäre in vielen Dingen angebracht.
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Wir stoßen auf gute und schlechte Nachrichten – wir stoßen auf unterschiedliche Ausgangssituationen, wir sahen, dass es den Eltern mit den kleinen Kindern gar nicht gut ging. Die Jugendlichen, vor allem jene in der Oberschule, hatten es da schon wesentlich besser.
Die Systeme und somit auch das Bildungssystem mussten versuchen, Ausgleich zu schaffen zwischen jenen, die es bisher schon einfacher hatten und jenen, die diesen Vorteil nicht für sich in Anspruch nehmen können. Wir haben schnell gelernt, und das war wohl etwas vom Erstaunlichsten – ein Kompliment an die Lehrer, die sich auf dieses neue Lernen eingelassen haben: Ungewohnt intensiv, digital herausfordernd, kommunikativ trotz sozialer Distanz und mit großem Unterstützungspotential.
Wir haben gelernt, wie wir von heute auf morgen zu einer effizienten Didaktik kommen könnten. Welche Strukturen sind schnell, gewissermaßen über Nacht, aus dem Boden zu stampfen? Wir mussten uns den Kopf darüber zerbrechen, wie es zu schaffen ist, Ungleichheiten einigermaßen zu kompensieren. Zu überlegen galt, welche logistischen Strukturen notwendig waren, um schnelle Information, schnelle Hilfe zu ermöglichen. Fragen mussten gestellt werden, wie wir technisch, didaktisch aufgestellt sind. Wie steht es um die Brauchbarkeit der Leadership? Auch galt zu überlegen, ob die althergebrachten Modelle noch etwas taugen. Und nicht zuletzt: Haben wir uns genügend eingeübt ins Zuhören? ins vorsichtige Abschätzen? Matthias Horx, vom Zukunftsinstitut Frankfurt a.M. und Wien spricht davon, dass jetzt die notwendigen Fragen gestellt werden müssen.
Fehler und Unterlassungen in den Jahren, wo alles nach Linie gelaufen ist, wurden von einem auf den anderen Tag sichtbar. Aber jetzt kennt man diese Fragen, man sollte sie gewärtigen, daran arbeiten. Tut man es nicht, wird man beim nächsten Bruch sagen müssen: Nix gelernt.
Die Krise ist für die einen schlimm, für andere noch schlimmer, wieder andere haben dramatisch daran zu leiden, aber wir verändern die Realität nicht, indem wir darüber wehklagen oder sie negieren. Und deshalb muss sie als Gelegenheit gesehen werden, die man nicht ungenützt verstreichen lassen darf. Den Dingen auszuweichen und zu hoffen, bald wieder zum Altgewohnten zurückzukehren, ist die denkbar schlechteste Option.
Jan Ross und Heinrich Wefing sagen denn auch in der Zeit Nr. 37 vom 3. September: „Ein experimentierfreudiges Klima ist nicht nur das aussichtsreichste Rezept für den Sieg über das Virus, sondern auch für eine Gesellschaft, die bei Verstand bleibt.“ Und noch etwas ist ganz wichtig: Durch schwierige Situationen gut durchkommen, das bildet, macht reif, stärkt und öffnet Perspektiven, die vorher undenkbar waren.
Matthias Horx hat anlässlich der Toblacher Gespräche 2020 von Dekonstruktionen gesprochen. Durch die Krise kommt es zu Irritationen und zur Konstruktion von Neuem. Die Dekonstruktion alter Gewohnheit und das Einlassen darauf lässt Menschlichkeit entstehn, meint Matthias Horx. Also, gehen wir’s an.
Johann Georg alias Hansjörg Rogger