Claus Gatterer

Als ich das Auditorium betrat, war ich erstmals überrascht. Zusätzliche Stühle waren notwendig geworden. Dann kam mir das Jahr 2014 in den Sinn. Ganz unvermittelt. Aber was hat 2014 mit dem 6.6.2024 zu tun? Zehn Jahre sind vergangen, als ich am 26.Juni 2014 in einem öffentlich gemachten Blogg beklagte, dass die Heimatgemeinde Sexten, Gatterer (wieder) emigrieren lies. Seit nun schon sechs Jahren ist alles wieder anders. Gatterer ist wieder zurück. Das Gefühl für den großen Mann erlebte in den vergangenen sechs Jahren eine zweifache Renaissance.

Vom empathischen Kulturunternehmergeist spricht Teresa Indjein, österreichische Botschafterin in Rom und meint die Organisatoren um Hermann Rogger. Nebenbei erwähnt sie Italiens Stolz auf die Nummer eins der Tenniswelt. Das mentale Sportwunder mit der hübschen Stirnlocke, wie sie es umschreibt. Heute aber steht Gatterers Erbe vornean. Das Kulturhighlight in der schönen Welt, dessen Narrativ es seit Jahrzehnten versteht, die Fremden herzuholen.

„Ich glaube der große Journalist Claus Gatterer wäre heute sehr zufrieden, hier zu sein. Er würde aufgeschlossen interessiert das jugendliche Potential sehen.“ Teresa Indjein. Und zugewandt an die teilnehmenden jungen Leute am Schülerpreis „Claus“: „Alle können nicht an den ersten Platz gestellt werden, aber sie haben – alle Einreichungen gesamthaft betrachtet – im unbewussten Ensemble ein Gesamtkunstwerk geschaffen.“

„Mit Mitgefühl, dem rettendsten aller Gefühle“, so sagt es die Botschafterin, sind die 14 an ihre Arbeit gegangen. „Es ist das Sensorium der Verletzlichkeit, das die 14 Beiträge miteinander verbindet. …. Gut gemachte Beitäge, relevante Fragen. Bravo Südtiroler Jugend.“ Sagt die Botschafterin. Und ich füge hinzu: Anderswo, wo es um politische Entscheidungen geht, hört man ihnen nicht so gerne zu.

Der Siegerbeitrag stellt die Frage, wie es zum Selbstbewussten der Südtiroler kommen konnte. Der Autor Jannik Brugger, Schüler der TFO Bruneck, schlägt einen Perspektivwechsel vor. „Ist dieser Stolz tatsächlich gerechtfertigt?“ Fragen des Preisträgers. Wie steht es mit der Selbstwahrnehmung der Südtiroler? Was macht es mit den Einheimischen, die gewollt oder ungewollt mit dem Narrativ „schönstes Land der Welt“ jahrein, jahraus zu leben haben?

Es ist der Verdienst einzelner Schulleute, gemeinsam mit den Organisatoren und Mentoren für eine kreative Jugendkultur, dies den jungen Leuten zu ermöglichen. Wertvolleres kann es kaum geben, als dass man der Jugend Räume auftut, damit sie sagen kann, was zu sagen ist. 

Was hätte uns heute Claus Gatterer zu sagen? Andreas Pfeifer, Auslandskorrespondent beim ORF stellt diese Frage. Gibt es ein Vermächtnis? Gibt es so etwas über das jährliche Gedenken hinaus? Was würde uns Gatterer über die faschistoiden Russenimperatoren sagen? Er, der er immer wieder Recht und Gerechtigkeit auszubalancieren trachtete? Er, der sich auf der Seite der Schwächeren sah? Er, der es wahrscheinlich oft nicht aushalten konnte, was so ablief in dieser schönen Welt, die oft genug doch nicht allzu schön dasteht? Der allzu frühe Tod legt Zeugnis ab. Er legte die Finger in die Wunden, ausnahmslos, er wurde aus dem Dorf hinausdrangsaliert und blieb trotzdem Mahner. Solche Mahner gehen uns heute langsam verloren. „Wir gleiten ab in die kollektive Demenz“, schreibt der bulgarische Autor Georgi Gospodinov. Es gibt nur noch wenige, die ein lebendiges Gedächtnis als Zeugen besitzen. „Beginnt das Feuer des Gedächtnisses auszugehen, kommt das Rudel der Vergangenheit immer näher.“

„Macht am Brenner das Gatter zu, damit der Gatterer nicht mehr hereinkommt.“ verlangte damals Karl Felder, der Autor von „Wohl ist die Welt so groß und weit und voller…..“ man weiß, dass jetzt nur Sonnenschein folgt.

Und Gott sei Dank vor sechs Jahren wurde Gatterer wiederbelebt. Andreas Pfeifer hat das zentrale Anliegen Gatterers auf den Punkt gebracht und aus der Gedenketage-Routine herausgeschält. Er hat Gatterer in das Hier und Jetzt geholt. Fake News, soziale Medien, Lüge als politisches Programm, Brexit, Krieg. Sein Teleobjektiv gibt es nicht mehr. 1984 wurde es abgesetzt. Zu viele Widerstände. Zu viele Wahrheiten. Zu vieles, was weh getan hat.

Vor 100 Jahren ist er geboren. Was sagt uns der Mann, dessen Namen damals hier bei uns nicht sonderlich geschätzt war? Was sind heute seine Worte wert? Sind sie noch etwas wert oder endlich was wert oder nur als Mäntelchen dafür geeignet, dass das Tourismusdorf auch so etwas wie Kultur vorzuzeigen habe? Gut geeignet sich neben der Folklore und den Bergen auch kulturhistorisch seinen Standpunkt zu sichern? „Jede einfache Wahrheit ist des Teufels“ schrieb Gatterer. Sein Drang nach Wahrheiten und wie sein Land und sein Dorf damit umgegangen sind, muss Teil des Gedenkens an Gatterer sein. Denn wenn Vergangenheiten nicht vergessen werden dürfen, dann ist das wohl das Denken Gatterers, das abseits von heimatlichen Heroisierungsversuchen und den Superlativen im Marketing, Beachtung finden muss. Alles andere wäre Heuchelei.

„Im Zeitalter der Digitalisierung kämpft der Journalismus nicht nur gegen Parteipotentate und Medienfürsten, sondern kämpft gegen seine galoppierend fortschreitende Bedeutungslosigkeit……“. (Andreas Pfeifer) Und ganz am Schluss: „Meine Empfehlung: Lesen Sie Claus Gatterer. Irgendwo da draußen gibt es die schöne Welt ja immer noch. Und die bösen Leut, (Pause) die auch.“ Ich hätte noch eine ganze Weile zuhören können.

Barbara Bachmann ist die diesjährige Gattererpreisträgerin. In Gedenken an Claus Gatterer. Sie erzählt von ihrem eigenen Kind, das starb, bevor es auf die Welt kam. „Barbara Bachmann holt den Tod dorthin, wohin er hingehört. Ins Leben.“ Kurt Langbein in der Laudatio für Barbara Bachmann.

Johann Georg (Hansjörg) Rogger / Juni 2024