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  • 40 Jahre danach geboren

    1954 wurde ich in ein Dorf hineingeboren, das nicht müde war, darauf zu vertrauen, dass nicht noch ein dritter Krieg das ganze Leid wieder von vorne beginnen lässt. Man baute auf die Vernunft einer neuen Generation. 

    Das Tretauto war aus Blech geschnitten, rot lackiert – mein Begleiter in den jungen Jahren. Mehr als 40 Jahre nach dem ersten großen Krieg, 20 Jahre nach der 2. Katastrophe. Vor der Haustür ein schmaler, staubiger Weg, kein Asphalt. Platz genug für mein Tretauto. Heute hat da kein Spielzeug mehr Platz. Als Sandwich geboren, viele Male von hinten und vorne zerdrückt, aber mein rotes Auto tat immer das, was ich wollte. Meinen Zorn bekam es zu spüren, auch meine Zärtlichkeit. 

    Es gab nur diese eine enge Welt: Mama, Papa, Opa und mich, eingeklemmt zwischen Bruder und Schwester. Folgsam sein war das Gebot der Zeit. Gehorsam, unterwürfig und selbstverständlich katholisch. Sonst drohe die ewige Verdammnis. So wurde oft genug unser kleines Gehirn auf Linie gebracht. Die Hölle tat noch ihr übriges. War man nicht so auf Linie, dann war man der Luthrische. Papst- und Kirchentreue standen ganz oben an, zumindest offiziell. Vieles war schon damals sehr viel Schein. Gott, Kaiser und Vaterland hatten einen Knick bekommen. „Verlassen ganz von Gott und Kaiser Franz“ Irgendwann viel später hatte ich verstanden, dass das ganze Leid, alle Toten umsonst waren. Man kämpfte für das Vaterland Österreich, führte Befehle aus, auch strategisch miserable, wähnte sich Gott und den Kaiser hinter sich, und am Ende waren viele Leben zerstört, das Recht auf Leben viele tausend Male missachtet, junge Menschen als Kanonenfutter missbraucht. Ein paar Mythen verhübschten das Elend, und die Mächtigen übten sich in der Glorifizierung der toten Helden. Die, die Glück hatten und überlebten, bekamen Tapferkeitsmedaillen. Frauen, Mütter und Kinder, denen man ihre Männer und Väter weggeschossen hatte, büßten für etwas, wofür sie nichts konnten. Die Brandstifter saßen dort, wo keine Granaten und Gewehrsalven zu befürchten waren. An dieser Rollenverteilung hat sich bis heute nichts, aber schon gar nichts verändert; man denke an den Herrn Assad in Syrien, an Herrn Putin in Russland, ganz zu schweigen von Lukaschenko in Belarus, den Generälen in Myanmar, Xi Jinping in China usw. Die „Kaiser“ triumphieren oder sie triumphieren nicht – egal, die Untertanen haben zu gehorchen. Und sie haben zu schießen und zu sterben, wenn man es ihnen befiehlt.

    Gewaltsames Sterben muss grausam sein. So dachte ich lange bevor ich erwachsen war, als junger Bub. Es ist alles vorbei. Nie wieder gibt es die Hoffnung, nie wieder die Sehnsüchte, die Träume. Ausradiert! Claus Gatterer schreibt in seinen Tagebüchern: „Er (der Tod) ist nicht süß, wie’s im Gedicht heißt…Das Vaterland wirft seine Söhne ins Massengrab – und oft genug den Raben zum Fraß vor.“ Gewaltsames Sterben vor 100 Jahren ist um nichts ein anderes als es heute ist. Ist es tatsächlich Vorsehung, wie Luise Rogger 1914 ihrem Mann an die Front in Galizien schreibt: „…Wie es die göttliche Vorsehung bestimmt hat, so wird es kommen….für den einen Leben, für den anderen der Tod“ Ebenso ist es 100 Jahre her, dass Josef Tschurtschenthaler, von der Russenfront weit im Osten nach Hause schreibt: „….Bei Tag und Nacht, ohne Ruhe, immer das Sausen der Kanonen und Gewehrkugeln in den Ohren. Da schaut es ganz schrecklich aus. Drum, oh Gott, bewahre vom Kriege.“ Mittlerweile weiß ich, dass es nicht Gott ist, der uns vor Krieg bewahren kann. Das müssen wir Menschen schon selber tun.

    Der Kindergarten war schön, aber das obligatorische Nachmittagsschläfchen mochte ich absolut nicht: sitzend auf dem Stuhl vor dem Tisch, den Kopf in die verschränkten Arme gelegt und: „Jetzt wird geschlafen!“ In der Volksschule habe ich viel gelernt, sehr viel über unser schönes Land; aber über die Welt und die traumatischen Geschichtserreignsse war viel zu wenig dabei. Es stand nicht in den Lehrplänen, und Bücher dazu gab es sowieso keine. Nicht so erfreut waren wir, wenn man uns Buben und Mädchen in der Klasse an den Haaren gezogen hatte und der eine und die andere in die Ecke gehen musste, ich auch – in die Büßerecke – grauenhaft! Wenn uns Frau Lehrerin mit dem Haselnussstöckchen, meistens mehrere Schläge auf die ausgestreckten Finger draufgab, erfuhren wir Buben und Mädchen wie Linientreue auszusehen hat. 

    Wenn daheim von den beiden Kriegen gesprochen wurde, dann gab es in meinem Kopf ein höllisches Durcheinander. Mein Opa hat den 1. und 2. Krieg durchleben müssen, mein Vater und meine Mutter den 2. Was war vor 40 und was vor 20 Jahren? Ich konnte es nicht auf die Reihe bringen; ein Kuddelmuddel in meinem Kopf, mehr nicht. Ganz selten kam mein Opa mit einem Bild aus seinem Fotoalbum: 1915 – ein zerbombtes Sexten. 1923, so habe ich dies erst viel später realisiert, hat man den Abschluss des Wiederaufbaus gefeiert. Gern kramte Opa in jener Schublade im Wohnzimmer in der, schön gebündelt, die wertlosen österreichisch/ungarischen Kronen lagen. Oft brummte er gut hörbar vor sich hin, manchmal etwas lauter: „Wir haben für dieses Österreich, für diesen Kaiser gekämpft – alles umsonst, verpufft, verraten, in Stich gelassen.“ Wenn er schlecht drauf war, klang es sehr aggressiv, wenn es ihm gut ging, war zurückhaltende Ironie zu spüren. Und er konnte darüber sogar lachen, aber auch fluchen und aufbrausend schimpfen. 

    Damals war aber mein Tretauto auf der Straße vor dem Haus viel wichtiger als die alten Geschichten. Mitbekommen habe ich sie schon, verstehen und mir einen Reim daraus machen, das konnte ich damals nicht oder nur sehr bruchstückhaft. Wollten wir Kinder mal was nachfragen, was so häufig gar nicht war, dann hieß es, dass wir das sowieso nicht verstehen würden. Ok, dann ging ich wieder zu meinen Legos und zu meinem Tretauto. „Das verstehst du nicht“, „du bist noch grün hinter den Ohren“, haben mir meine Spielsachen nie zugeflüstert. Sehr wohl verstanden hatten wir junge Buben und Mädchen die ständigen Hinweise auf den sparsameren Umgang mit dem, was auf den Mittagstisch kam. „Hätten wir das damals im Krieg gehabt, was ihr da in den Müllkübel werft, wir wären glücklich gewesen.“ Das war schon nervlich, was wir Buben und Mädchen immer und immer wieder zu hören bekamen. Verstanden habe ich es aber erst viel später.

    Es ist seit diesen Tagen sehr viel Zeit vergangen, und aus heutiger Sicht betrachtet, waren meine Eltern und mein Opa auch nicht gerade erpicht, über diese grauenhaften Jahre nachzudenken und zu sprechen. Sie hatten überlebt, und es war ihnen ein Gräuel, uns Kindern zu erzählen, wie es ihnen ergangen ist. Wie gesagt, Anlässe, danach zu fragen gab es nicht. Wenn wir mal zu fragen probierten oder wenn sich Fragen aufdrängten, weil die Großen unter sich doch hin und wieder Vergangenes aufblitzen ließen, dann war dies, wie bereits gesagt, nicht so recht angebracht, oder die Antworten waren so kompliziert, dass man tunlichst weiteres Nachfragen vermieden hatte. Und überhaupt, wieso sollten wir Kinder so viel danach fragen? Wir hatten doch alles, was wir brauchten. Wir freuten uns sogar auf unser Ausweichquartier im Sommer, wenn die Fremden unsere normalen Schlafkammern besetzten. 

    Ich konnte mir nur sehr zaghaft einen Reim darauf machen, was Krieg bedeutet, was Frauen, Männer und Kinder erleiden mussten, was es heißt, seine Heimat verlassen zu müssen, was es bedeutet, sich vor den Granaten zu verstecken, was es heißt, dass junge Burschen, Väter und Verliebte oben in Schnee und Eis gefallen sind. Also hatten die Großen wohl darin recht, zu behaupten, das würden wir ja sowieso nicht verstehen. Oder sie wollten uns vor den Traumata bewahren und uns für eine heilere Welt vorbereiten. Ich bin mir nicht sicher, was vernünftiger hätte sein können.

    1965 jährten sich die schicksalhaften Ereignisse zum 50. Mal. Ich war 11 Jahre jung. Inwendig in meinem jungen Kopf hat sich viel getan. Nach außen hin durfte nicht viel gezeigt werden. Wenn man laut über Dinge nachdachte, die nicht der öffentlichen Moral entsprachen, musste das „Maul gehalten“ werden. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – Mamas Worte. Am 4. Juli 1965 hat der Sender Bozen einen Bericht ausgestrahlt, in dem mein Opa die Geschehnisse um den Tod von Sepp Innerkofler repetierte. Mein Opa war als 17jähriger Bub bei dieser fliegenden Patroullie um Sepp Innerkofler mit dabei. Man stelle sich das mal vor: ein 17jähriger Bub ganz vorne an der Front, wo getötet wurde. Hätte es ihn auch erwischt, wir hätten einen Heldentoten mehr, aber viele Leben weniger. Mit einem alten Tonbandgerät hatte ich damals 1965 dieses Interview aufgezeichnet. Ich hütete dieses Band, als sei es mein bester Freund. Lange Zeit schien ich es vergessen zu haben. Dann nach vielen Jahren kramte ich es wieder heraus und setzte alles daran, es auf ein neues Format zu bringen. Die Cassette lief und lief, bis ich begriff, was ich als 11jähriger nicht verstehen konnte. Das Land schuf sich einen Mythos, einen Heldentod, der massive strategische Fehler kaschieren und vergessen lassen sollte. Machpolitik versagte auf erbärmliche Weise.

    Eltern haben es den Schulen überlassen, uns die Bitterkeit der vergangenen Jahre zu erzählen. Zu hören bekamen wir aber dort vorwiegend die frühe Geschichte unserer Vorfahren. Und dies in einer permanenten Endlosschleife von sechs bis hinauf zur Oberschule. Man wollte nicht, oder man traute sich nicht. Die Schauplätze waren viel zu nah und deshalb viel zu gefährlich, sich auf Unangenehmes und Widersprüchliches einzulassen. Da ist es wesentlich einfacher, die ferne Geschichte, die keinem mehr weh tut, vermitteln zu wollen. Steinzeit, Bronzezeit, von den Anfängen bis herauf zum aufrechten Gang und zum Homo sapiens. Meisterhaft, wie die Geschichte der unmittelbareren Vergangenheit auf die Seite geschoben wurde. Zumindest fühlte ich mich irgendwann später, in meinen nicht mehr so jungen Jahren in dem Gefühl glücklich geborgen, dass Europa so etwas in Zukunft verhindern kann. 

    Rogger Hansjörg, 2021

  • Gedanken eines Sextners über einen Sextner


    „Wie lernen wir miteinander zu leben?“ fragt sich der Philosoph Hans Martin Schönherr-Mann. In Claus Gatterers historischen und publizistischen Arbeiten stand diese Frage im Vordergrund. Es war sogar eine seiner Lieblingsfragen. Akademische Antworten gefielen ihm nicht. Er antwortete dialektisch, nicht besserwisserisch, nicht lehrmeisterhaft. Seine Antworten waren eigentlich erneute Fragen. Und Gatterer hörte genau auf das, was geantwortet wurde. Er hörte auf das Innere der Antworten, auf die feinen Nuancen; nicht das Reißerische war ihm wichtig, nicht das Laute, das Sensationelle, nicht das Krawallische. Überhaupt war er nicht der Laute. Er hat die leisen Töne, die leisen verborgenen Schmerzen, die Ängste und Ungerechtigkeiten vernommen. Er wollte, dass sie gehört werden. Und er spiegelte die nicht gern gehörten dunklen Seiten der Gesellschaft in eben diese Gesellschaft wieder zurück. 

    Veränderungsperspektiven waren sein Anliegen. Gatterers Intention war es, durch seine Sozialreportagen draußen in der Gesellschaft etwas zu bewirken. Und solche Resonanzen gab es zuhauf. Der Anschein, dass es in den 70ern allen gut gegangen sei, zerbröselte unter der feinen publizistischen Lupe Claus Gatterers. Gatterer schaute genauer drauf und stellte fest, dass es gar nicht wenige gab, die an den Rändern der Gesellschaft kein so tolles Leben hatten. Als Historiker schreibt Gatterer in „Der schwierige Weg zueinander“ in Aufsätze und Reden, S. 351: „Man verachtete einander, weil man sich nicht kannte.“ Dabei bezog sich Gatterer auf das schwierige Verhältnis von Südtirolern und Italienern. 

    Seit den 80er Jahren hat sich in dem schwierigen Verhältnis einiges getan. Zum Guten hin, so wie es sich dies auch Gatterer vorstellen konnte. Historiker und Mahner auf der einen Seite – Fürsprecher für die Schwachen auf der anderen Seite. Gatterers Teleobjektiv-Sendungen legten die Finger in jene Wunden, die erst viel später, wir erinnern uns an die Aufdeckungen der Missbrauchsskandale, massiv aufgebrochen waren. Menschlichkeit, Menschenrecht und Menschenwürde waren für Gatterer so was wie Leitideen, die seine Arbeit charakterisiert hatten. – Das Aufbrechen von Scheinkulturen, das Hinterfragen von verkrusteten Strukturen, das Hinhören auf soziale Randgruppen. – Und das alles sehr behutsam, ohne Skandalisierungen, ohne Sensationsgier, ohne Lust am Leiden anderer. 

    Gatterer liebte den Diskurs. Gatterers Fingerzeig auf das, was er für Unrecht hielt, tat damals in den 70ern und 80ern jenen sehr weh, die in den alten undurchsichtigen Machtstrukturen weitermachen wollten. Es war ungewohnt, und in gewissem Sinne war es der Fingerzeig in eine sich verändernde Zeit. Die Denkweise, sich in andere Menschen, in die Randgruppen, in die Schwachen hineinzuversetzen schwappte ins Fernsehformat über. Das „Teleobjektiv“ wurde vorhin genannt. Etwas völlig Neues, Ungewohntes. Bis es 1984 abgesetzt wurde. 

    „Der Mensch soll aus sich heraustreten und sich in andere Menschen hineinversetzen, dann wüsste jeder von selbst, wie er sich zu verhalten habe.“ – Immanuel Kants „Kategorischer Imperativ“.- Genauso hielt es Gatterer. Maßstäbe für gerechtes Handeln zu finden, das war seine Maxime. Gatterer wollte auch weg von der Opferrolle und hinein in ein differenziertes Verständnis von Zusammenleben. Der Philosoph Jürgen Habermas spricht von der Diskursethik: „Jeder höre dem andern zu“. Claus Gatterer hat dies konsequent umgesetzt. – Ein Mittel zur Lösung von Problemstellungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Herrschaftsfreier Diskurs mit Aufdeckung von Machtmissbräuchen ohne Zorn und versteinertem Hass, aber Bekenntnis zu dem, wofür man steht und, wo man sich beheimatet fühlt mit gleichzeitigem Verständnis für das Andere und die anderen.- Also weg von dem „mir san mir“, weg von verkorksten Nationalismen. 

    „Herrschaftsfreier Diskurs verlangt“, so Schönherr-Mann „dass man den Andersdenkenden zunächst einmal akzeptiert und ihm auch einen Raum für Kommunikation öffnet.“ In dieser Denkweise fand sich Claus Gatterer wieder. Aufbruch konservativer Denkformen, die Stimme auch jenen geben, die sonst keiner hört, im Zweifel bei den Schwachen. Diese Handlungsmaximen führten dann zu den gesellschaftlichen Eruptionen, wie wir sie lange nach Claus Gatterer erleben mussten: Die, die fast schon als Götter gehandelt wurden, in Politik, Kirche, Erziehungsheimen, Schulen, Konzernen entpuppten sich als die, die gegen das Leben verstießen. Die vermeintlichen Götter entpuppten sich oft als die falschen Götter. Der Psychoanalytiker Arno Gruen sprach 1991 von solchen „falschen Göttern“. Misshandlungstragödien noch und nöcher. Bis jemand kam und sagte: Moment mal, so geht das nicht; moment mal, da gibt es die hilflos Ausgelieferten; moment mal, da gibt es die, die furchtbar leiden. Und was ist mit jenen, denen man ihre lebenslange Liebesfähigkeit geraubt hat?, mit den misshandelten Kindern?, mit den gedemütigten Frauen? Und Claus Gatterer hat diesen Menschen damals schon eine Stimme gegeben. 

    Auch als Historiker hat er jenen eine Stimme gegeben, die über das einfache schwarz-weiße Denkschema hinausdenken wollten. Die einen wollten uns Südtiroler von den Italienern trennen „Je besser wir trennen, desto besser verstehen wir uns“. Gatterers Vision war eine ganz andere. Den herrschaftsfreien Diskurs gab es noch nicht. Claus Gatterer hat ihn, wie viele andere auch, gewagt. Man hat’s ihm übel genommen: Nestbeschmutzer usw. usw. Hergebrachte Strukturen hat Gatterer dermaßen erschüttert, dass er in unserem Land nicht mehr gerne gesehen war. – „Schöne Welt – böse Leut“ – 1984 wurde sein „Teleobjektiv“ abgesetzt – 1984 starb Claus Gatterer. 

    1985 wurde vom Österreichischen Journalistenclub der Claus Gatterer Preis ins Leben gerufen, mit dem seither jährlich herausragende journalistische Arbeiten ausgezeichnet werden. Seit 2018 gibt es den Schülerpreis für journalistisches Arbeiten, den „Claus“. 2019 wurden zum ersten Mal Arbeiten von Schüler*innen eingereicht und bewertet.

    Johann Georg alias Hansjörg Rogger, veröffentlicht in „Kulturelemente“, Hrsg. Distelvereinigung/2020

  • Zum Weltlehrertag am 5. Oktober 2020 und ein Rückblick auf die dreieinhalb Monate im Lockdown

    Durch den Einschnitt im Frühjahr, als die Bildung andere Wege zu gehen hatte, gab es von Schüler*innen und Eltern, nach anfänglicher großer Skepsis, Überraschendes zu hören. 143 Schüler*innen haben sich in 572 Einträgen zu Wort gemeldet: Jetzt sind wir zum ersten Mal selbst gefordert; ich war gezwungen, mir die Tage präzise zu strukturieren; ich musste präziser lernen, um präziser Fragen stellen zu können;  ich vermisse das Vis a Vis mit den Lehrern;  es tut gut, nicht immer alles angeordnet zu bekommen; wie einfach war es doch, nur warten zu müssen, bis der nächste Auftrag kommt;  cool, ich kann endlich selbst entscheiden, was und wie lange ich heute lernen will; es war so ruhig in der Videokonferenz, es gab keine Seitengespräche, keine Störer und Chaoten, wenn ich wollte, konnte ich zuhören, mich störte niemand mehr;  meine Lehrer waren super, meine Lehrer waren für mich da;   es war super, dass wir uns zumindest über Videokonferenzen sehen konnten; es gab Lehrer, die das mit den Konferenzen nicht so gerne machten, und wir auf der Suche nach ihnen waren;  es gab in dieser Zeit sehr viel zu tun;  anfangs gab es zu viele Plattformen, dann als MS Teams kam, ging es sehr gut; mit den Videokonferenzen schwand mein Datenkontingent dahin, ich musste bei den Spielen anfangen zu sparen; ich möchte so gerne wieder in die Schule, die Freunde gehen mir ab; ich konnte mehr lernen, weil ich nicht so angespannt war; ich bin eigentlich ruhig, weil ich weiß, dass diese Situation nicht endgültig ist; am Anfang war der Druck der Lehrer schon schwer auszuhalten, viele meinten halt, ihr Fach sei das wichtigste;  es tut gut, zu wissen, dass da draußen jemand ist, der sich unsere Sorgen und Nöte anhört, usw.

    Der Einschnitt im Frühjahr hat gezeigt, dass der geradlinige Verlauf der Welt eine Illusion ist. Irgendwann kommt der Schnitt und da werden wir auch nicht danach gefragt, ob uns das passt oder nicht. Ein Virus kennt kein demokratisches Prinzip, wir haben uns da gefälligst anzupassen. Entweder wir strengen unseren Grips an oder nicht. Dem Virus ist das völlig wurscht. Wir sind es, die es in Griff bekommen wollen. 

    3 1/2 Monate Ausnahmezustand im Bildungssystem und schon geht einigen in unserem Europa das Recht auf Bildung ab. Eine populistisch schreierische Position; müsste man es doch besser wissen – wenn man es wissen wollte – dass nicht mal 3000 Kilometer von uns entfernt Lebens-Notstand herrscht. Purer Sarkasmus, denn dort haben viele gar nicht die Kraft, sich ein Bild über das zu machen, was Bildung bedeuten könnte.  Im Flüchtlingslager auf Lesbos leben Kinder, die noch nie eine Schule gesehen haben. Und nicht einmal 1.500 Kilometer entfernt, dort wo Regierungen sich um nichts als um sich selber kümmern, müssen Tausende zuerst mal schauen, überleben zu können. Sein oder nicht sein ist dort viel zu oft das existenzielle Bildungsziel. Geduldigeres Nachdenken hier bei uns wäre in vielen Dingen angebracht.

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    Wir stoßen auf gute und schlechte Nachrichten –  wir stoßen auf unterschiedliche Ausgangssituationen, wir sahen, dass es den Eltern mit den kleinen Kindern gar nicht gut ging. Die Jugendlichen, vor allem jene in der Oberschule, hatten es da schon wesentlich besser.

    Die Systeme und somit auch das Bildungssystem mussten versuchen, Ausgleich zu schaffen zwischen jenen, die es bisher schon einfacher hatten und jenen, die diesen Vorteil nicht für sich in Anspruch nehmen können. Wir haben schnell gelernt, und das war wohl etwas vom Erstaunlichsten – ein Kompliment an die Lehrer, die sich auf dieses neue Lernen eingelassen haben: Ungewohnt intensiv, digital herausfordernd, kommunikativ trotz sozialer Distanz und mit großem Unterstützungspotential.

    Wir haben gelernt, wie wir von heute auf morgen zu einer effizienten Didaktik kommen könnten.  Welche Strukturen sind schnell, gewissermaßen über Nacht, aus dem Boden zu stampfen? Wir mussten uns den Kopf darüber zerbrechen, wie es zu schaffen ist, Ungleichheiten einigermaßen zu kompensieren.  Zu überlegen galt, welche logistischen Strukturen notwendig waren, um schnelle Information, schnelle Hilfe zu ermöglichen. Fragen mussten gestellt werden, wie wir technisch, didaktisch aufgestellt sind.  Wie steht es um die Brauchbarkeit der Leadership? Auch galt zu überlegen, ob die althergebrachten Modelle noch etwas taugen.  Und nicht zuletzt: Haben wir uns genügend eingeübt ins Zuhören? ins vorsichtige Abschätzen?   Matthias Horx, vom Zukunftsinstitut Frankfurt a.M. und Wien spricht davon, dass jetzt die notwendigen Fragen gestellt werden müssen.

    Fehler und Unterlassungen in den Jahren, wo alles nach Linie gelaufen ist, wurden von einem auf den anderen Tag sichtbar. Aber jetzt kennt man diese Fragen, man sollte sie gewärtigen, daran arbeiten. Tut man es nicht, wird man beim nächsten Bruch sagen müssen: Nix gelernt.

    Die Krise ist für die einen schlimm, für andere noch schlimmer, wieder andere haben dramatisch daran zu leiden, aber wir verändern die Realität nicht, indem wir darüber wehklagen oder sie negieren. Und deshalb muss sie als Gelegenheit gesehen werden, die man nicht ungenützt verstreichen lassen darf. Den Dingen auszuweichen und zu hoffen, bald wieder zum Altgewohnten zurückzukehren, ist die denkbar schlechteste Option.

    Jan Ross und Heinrich Wefing sagen denn auch in der Zeit Nr. 37 vom 3. September: „Ein experimentierfreudiges Klima ist nicht nur das aussichtsreichste Rezept für den Sieg über das Virus, sondern auch für eine Gesellschaft, die bei Verstand bleibt.“ Und noch etwas ist ganz wichtig: Durch schwierige Situationen gut durchkommen, das bildet, macht reif, stärkt und öffnet Perspektiven, die vorher undenkbar waren.

    Matthias Horx hat anlässlich der Toblacher Gespräche 2020 von Dekonstruktionen gesprochen. Durch die Krise kommt es zu Irritationen und zur Konstruktion von Neuem. Die Dekonstruktion alter Gewohnheit und das Einlassen darauf lässt Menschlichkeit entstehn, meint Matthias Horx. Also, gehen wir’s an.

    Johann Georg alias Hansjörg Rogger

  • Verschwende niemals eine Krise – lerne daraus

    Toblacher Gespräche 2020

    35 Jahre ist es her, dass in Toblach 1985 die ersten Toblacher Gespräche stattgefunden haben. Eine aufstrebende Gemeinde in Südtirols Hochpustertal, ganz nahe an den Drei Zinnen, hat sich vor über 30 Jahren auf den Weg gemacht. „Für einen anderen Tourismus am Beispiel des Bergtourismus“ war das 1. revolutionäre Seminarthema. Vor über 30 Jahren hatte man begonnen, darüber nachzudenken. Vieles hat sich seit diesen Jahren verändert. Sehr vieles. Und die Tourismusorte sind immer attraktiver geworden. Die Bahn hat man rundum modernisiert, man hat zu einem beachtlichen Teil Heizöl mit Hackschnitzel ersetzt, man übt sich seit vielen Jahren in der Mülltrennung, erfand lokale Vermarktungsstrategien und dachte darüber nach, wie es zu schaffen wäre, Tourismuswirtschaft und Ökologie irgendwie in Harmonie zu bringen.

    Der Tourismus hat in den vergangenen Jahren eine fast schon gigantische Fahrt aufgenommen. Attraktive Orte wurden geschickt vermarktet. Diese mussten sich dann aber den Kopf zerbrechen, wie sie mit der Attraktivität zurechtkommen wollten, damit nicht gerade diese Attraktivität kaputt macht, was so hoffnungsvoll begann. Ein attraktives Land, bemüht um einen Tourismus, der nicht nur für viele die Lebensgrundlage bietet, sondern auch dem Anspruch gerecht bleiben will und soll, lebenswert und liebenswert zu bleiben.

    Bei den 14. Toblacher Gesprächen im Jahr 1998 ging es um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, und es ging um Schönheit. Gewissermaßen eine ökologische Aufbruchstimmung mit philosophisch literarischen Leitideen. Das Schöne könnte zum Guten hinführen und damit zu einem Verhalten beitragen, das sich an den Vorgaben der Natur orientiert. Ästhetik und die Liebe zur Landschaft.

    Bei den Toblachen Gesprächen 2020 bekam das Thema der Schönheit erneut Aufmerksamkeit. Die verloren gegangene Schönheit war es dieses Mal. Szenarien möglicher Fluchtwege wurden konstruiert. Graeme Maxton sprach von der Climate Emergency. Klingt apokalyptisch, aber die Wissenschaft mit ihren Analysen und Daten ist unüberhörbar: Der Klimawandel ist im Gang. Dass wir Menschen dies zu verantworten haben, wissen wir, dass wir Menschen die verheerenden Konsequenzen zu tragen haben, wissen wir genauso.

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    Schon vor 20 Jahren wurde gesagt, dass sich das Schöne mit dem Nützlichen verbinden müsse. Der Mensch hat seine Kulturlandschaften gebaut. Dadurch wurde die Welt vielgestaltiger und schöner. Dies dürfe aber nur in Allianz mit der Natur geschehen. Und an dieser Allianz scheint es in vielen Fällen zu hapern. Lorenzo Magliano, Dozent für Advanced Building Physics, Mailand zeigte 2020 am Beispiel der Radfahrwege in Paris, dass ein gutes Leben einfach sein kann. Es braucht aber Allianzen, um dadurch der Schönheit der Städte wieder Platz einräumen zu können.

    1989 sprach Josef Zoderer, Südtiroler Autor, über Schönheit und Nachhaltigkeit: „Stichwort neues Zivilisationsmodell, Stichwort gegenwärtige Entwicklung, Stichwort nicht zukunftsfähig, Stichwort Schönheit.“ Zoderers literarisches Plädoyer für eine Landschaft mit Kultur und nicht für ein „Entweder – Oder“. „Schön ist nachhaltig, nachhaltig ist schön, das verstehe ich als gemeinsames lustvolles bewusstes Ziehen an der Bremse, damit wir endlich oder noch Zeit haben zu sehen, was vor den Fenstern und dahinter mit uns selbst geschieht.“ Sagte Zoderer 1989 bei den Toblachen Gesprächen – vor mehr als zwei Jahrzehnten. Die Botschaft hörte man wohl.

    Und 2020? Zum 31.Mal gab es in Toblach gut Gemeintes, tolle Visionen, zukunftsweisende Konzepte. Fridays for future blitzte zwischendurch auf. Jetzt, da es bisher die Großen nicht schafften, Ordnung in unseren ökologischen Systemen wieder herzustellen, müssen die Kinder ran. Der Umweltingenieur am Politecnico Mailand Stefano Caserini sagt dann auch: „Abbiamo perso tempo, bereits jetzt ist es schwierig, zurückzukehren, wir müssen mehr tun.“

    Seit über drei Jahrzehnten gibt es Mahnungen aus Toblach, eine unglaublich lange Zeit, und laut Caserini hat die Erde nur mehr eben noch einmal diese 30 Jahre Zeit, um die Wende in Gang zu bringen. Seit vielen Jahren hören wir nichts anderes, und Herr Caserini bringt es auf den Punkt: „Es geht darum, dass wir innerhalb von dreißig Jahren die Art, wie wir unsere Häuser heizen, Strom produzieren und Autos, Motorräder, Lastkraftwagen oder Flugzeuge bewegen, radikal verändern.“

    Über dreißig Jahre wurde die Botschaft der Toblacher Gespräche nicht nur an die Adresse von ein paar Umweltaktivisten gerichtet. Fokussiert und gedacht waren sie, drei Jahrzehnte lang, für die Lokalpolitik aber nicht nur. Niederschwellig auf lokaler und individueller Ebene wurde da einiges angedacht und umgesetzt. Aber gedacht waren sie auch global – nicht umsonst wurden die Thesen der Toblacher Gespräche auch in der Auslandspresse abgedruckt. Wenn drei Jahrzehnte nachgedacht, wenn drei Jahrzehnte in die Lokalverwaltungen hineindiskutiert wurde, dann müsste die aufgerissene Wunde verdammt schmerzvoll sein, müsste man meinen. Zumindest spurlos war das ganze nicht. Aber, so scheint es, die Schmerzen waren immer noch auszuhalten. So richtig schmerzhaft waren die Wunden immer noch nicht.

    Caserini meint aber, jetzt, 30 Jahre vor der Apokalypse, dass es nun auf strategische Entscheidungen ankommen wird müssen, auf die Bodennutzung nationaler und überstaatlicher Ebenen, auf die Finanzierungen für den technologischen Wandel und den Bau großer Infrastrukturen. „Man bedenke nur, der Rückgang der Emissionen von Treibhausgasen muss das Ergebnis nationaler Maßnahmen und politischer Vorgaben sein.“ (Caserini Stefano, 2020)

    „Langsamer, weniger, besser, schöner – ökologischer Wohlstand“ Vision der 80er und 90er Jahre. Hans Glauber, der Initiator der Toblacher Gespräche skizzierte 1994 Szenarien eines menschlichen Handelns, das sich radikal zu verändern hätte, wollte man sich nicht in den Abgrund manövrieren. Haben diese zahllosen lokalen und internationalen Kongresse etwas gebracht? War das alles umsonst oder hat sich doch etwas verändert? Ja, es hat sich was getan, aber allein das Bewusstsein bei vielen Menschen und in lokalen Verwaltungsbezirken reicht nicht mehr aus.

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    Vor 20 Jahren stand im Aufmacher zu den Gesprächen: „Die Notwendigkeit einer umfassenden ökologischen Umsteuerung ist dringlicher denn je.“ Jetzt, 2020, plädiert Matthias Horx, Futurologe und Leiter des Zukunftsinstitutes in Frankfurt und Wien für einen ganz anderen Weg. Das Endzeitszenario ist passé. Jetzt müsste die ganze Kraft dafür verwendet werden, so sagt dies Matthias Horx, das Boot mit den Kräften der Technik, der Wirtschaft, der Kultur und der Politik in eine andere Richtung zu lenken. Die heutige Angst- und Schuldökologie, wie sie Horx bezeichnet, bringt nichts und spaltet die Gesellschaft. „Knappheits- und Verzichtsideologie erzeugt Stress und Aggression und führt unweigerlich zu Verteilungskriegen.“ Horx plädiert für einen Abschied vom Endzeitdenken und will die Versöhnung von Technologie, Kultur und Ökonomie.

    Enrico Giovannini von der Alleanza Italiana per lo Sviluppo Sostenibile, Rom deutet auf eine solche Versöhnung hin. Europa mit dem European Green Deal soll es richten. Europa als klimaneutraler Vorzeigekontinent? Klingt gut. Die globale Politik muss es anpacken. Das sind jene strategischen Entscheidungen, wie sie Herr Caserini fordert und wie sie von Herrn Horx als die Glokalisierung beschrieben wird. Sie lesen richtig: „Glokalisierung“. Übrigens, so etwas Ähnliches wurde vor drei Jahrzehnten von den Toblacher Gesprächen als globales denken und lokales handeln definiert.

    Enrico Giovannini nennt neben dem European Green Deal das Wirtschaftssystem, das im Dienste des Menschen zu stehen hat. Dazu kommen die Digitalisierung, die Förderung des europäischen Lebensstils, neuer Elan für die europäische Demokratie und ein insgesamt gestärktes Europa. Sechs Handlungsebenen, um eine ökologisch nachhaltige Entwicklung in Europa zu ermöglichen.

    Bei den aktuellen Toblacher Gesprächen führte das Coronavirus die Diskussion in eine Richtung, die sich so niemand erwartet hatte. Susanne Elsen, Professorin für angewandte Sozialwissenschaft der Universität Bozen: „Wir erleben eine unvorstellbare Vollbremsung. Die Krise irritiert, verunsichert, macht mit Recht Angst.“ Dass sich am Konsum, der Mobilität und dem Lebensstil etwas zu ändern hätte, um klimafreundlicher leben zu können, ist klar geworden. Durch die Corona-Zeit hat man eine Vorstellung davon bekommen, dass manches im Leben nicht unverzichtbar ist. Das meint Susanne Elsen.

    Mario Agostinelli, Präsident des Vereins „Energia Felice“ ist der Meinung, dass sich eine solche Entwicklung, wie sie Corona uns aufdiktiert hat, abgezeichnet hat. Mario Agostinelli: „Die Leichtigkeit und Geschwindigkeit mit der sich das Virus im Menschen verbreitet und angepasst hat, geht überraschend eng mit einer Reihe menschlicher Fehlentscheidungen einher: dem drastischen Abbau der Artenvielfalt, dem Siegeszug der Chemie in der Landwirtschaft sowie der Umweltbelastung durch Industrie und Verkehr. Diese destruktiven Prozesse haben auch die Wechselwirkungen unter Lebewesen und Arten auf der Erde verändert.“

    Verschwende nicht eine Krise, ohne daraus für die Zukunft etwas gelernt zu haben. Never waste a good crisis. Das war der Titel der 31. Toblacher Gespräche 2020. Ob die Gesellschaft tatsächlich daraus was lernen kann und will und ob sie, die Gesellschaft, die 30 kommenden Jahre das Pendel in die andere Richtung ausschlagen lassen will, hängt von globalen Strategien und lokalen Ideen ab.

    Johann Georg alias Hansjörg Rogger

  • Ich sag ganz leise servus

    Das Tretauto war aus Blech geschnitten, rot lackiert – mein Begleiter in den jungen Jahren. Vor der Haustür ein schmaler, staubiger Weg, kein Asphalt, Platz genug für mein Tretauto. Heute hat da kein Spielzeug mehr Platz. Als Sandwich geboren, viele Male von hinten und vorne zerdrückt, aber mein rotes Auto tat immer das, was ich wollte. Meinen Zorn bekam es zu spüren, auch meine Zärtlichkeit. Es gab nur diese eine Welt, Mama, Papa, Opa und mich, eingeklemmt zwischen Bruder und Schwester. Folgsam sein war das Gebot der Zeit. Gehorsam, unterwürfig und selbstverständlich katholisch. Sonst drohe die ewige Verdammnis.

    So wurde oft genug unser kleines Gehirn auf Linie gebracht. Der Kindergarten war schön, aber das obligatorische Nachmittagsschläfchen mochte ich absolut nicht. In der Volksschule habe ich viel gelernt, sehr viel über unser schönes Land, über die Welt etwas weniger. Nicht so erfreut waren wir, wenn man uns Buben und Mädchen in der Klasse an den Haaren gezogen hat und der eine und die andere in die Ecke gehen musste, ich auch – in die Büßerecke – grauenhaft! Die Zeit verging, und die Oberschule stand vor der Tür. Im Vergleich zu heute gab es kaum eine Auswahl, und der Berufsberater hatte zwei Kriterien: Entweder du bist geeignet für diesen Typ Schule oder eben nicht. Stur nach Buch und Seiten ist man vorgegangen, Kreidetafel – mehr gab es nicht. Und den Computer gab es nur im Wörterbuch. In der vierten Klasse wollte ich nicht mehr. Die Schule war mir zuwider. Ein Lehrer nahm mich zur Seite und tat alles, um mich zu halten. Haymo hieß er. Dann kam die Matura mit 42 Punkten von 60 möglichen. Die UNI folgte, und 1977 war meine erste Unterrichtserfahrung. 20 Jahre habe ich versucht, anders zu unterrichten, anders als ich es selbst erfahren hatte. Einiges ging ganz gut, einiges ging auch schief. Ich habe vor allem aus meinen eigenen Misserfolgen gelernt. Und ich dachte mir immer: Du musst die Dinge, die du den anderen beibringen willst, herunterbrechen, und zwar so, dass sie neugierig machen, herausfordern und Freude bereiten. Die Dinge emotional begreifen lassen – das war meine größte Leidenschaft im Unterricht. Aber wie gesagt, einiges ging gut, wieder anderes ging daneben. Ab 1996 übernahm ich Schuldirektionen, zuerst die alte LEWIT Innichen, dann RG und WFO in Sterzing, danach kam die WFO in Bruneck dran und dann noch das Sozialwissenschaftliche Gymnasium und Kunstgymnasium Bruneck. Bewegt und angetrieben hat mich seit meinen jungen Jahren eine Didaktik, die offen und experimentierfreudig war und Begabten, weniger Begabten und auch solchen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehn, Lebenschancen eröffnete.

    Sollte Schule es schaffen, die Freude am Lernen, am Forschen und am Diskutieren über die Schule hinaus wachzuhalten, dann kann sie einen Teil des Erfolges für sich verbuchen.

    In meinem Abschiedsbrief an die Maturant*innen steht:

    „…….Übt euch im friedvollen Denken, nehmt mit, was euch unsere Fächer mitgegeben haben. Und derer waren es einige, die euch nicht selten die Stirn haben runzeln lassen. Wertvoll allemal: Die Humanwissenschaften auf der einen und die Kunst auf der anderen Seite, Philosophie und Religion, die Literatur unserer vier Sprachen, die Naturwissenschaften, Mathematik/

    Physik, die Musik, die Rechtswissenschaft, Geschichte, Bewegung und Sport. Sie haben euch Dinge gelehrt, die mehr sind als Prüfungsnoten. Nehmt auch mit, was euch missfallen hat und versucht, es besser zu machen. Überlasst die Welt nicht einigen radikalen Hitzköpfen. Lebt das, wofür ihr in den vergangenen Jahren gestrebt und gekämpft habt.“

    Hansjörg Rogger, es war mir eine Ehre, euch viele Jahre hindurch begleitet zu haben.

    Nach 42 Jahre im Schulbetrieb ging ich 2020 in den Ruhestand.

  • Hölle

    Wenn es die Hölle tatsächlich gibt – jene feurige Drohkulisse, mit der man uns als Kinder das Fürchten lehrte –, dann werden dort wohl jene als erste schmoren, die mit salbungsvollen Worten und frommer Miene Hexen verbrannten, Kinder quälten und schändeten, Ketzer verfolgten und mordeten. Es gibt ein Buch, das Kriminalgeschichte des Christentums heißt – man lese es und staune, oder besser: erschaudere.

    Warum ausgerechnet die Kirche das Heil bringen soll, habe ich nie verstanden. Ich wusste es nicht – und keiner dieser schwarzgewandeten Herren hat es mir je vorgelebt. Ihre glattpolierten Sonntagsreden, die gefalteten Hände, das feierliche Getue – all das erschien mir schon als Kind wie ein hohles Ritual, ein Schauspiel ohne Seele.

    Wie oft bin ich nach endlosen Messen, monoton gemurmelten Rosenkränzen, feierlich dahinziehenden Prozessionen und stockfinsteren Sitzungen im Beichtstuhl in mein Zimmer geflüchtet – die Wut wie eine brodelnde Brühe in mir, dicht unter dem Deckel. Für einen Ausbruch fehlte mir der Mut, wie so oft. Also schwieg ich. Aber in mir tobte es, kochte, drängte – wie heißes Wasser, eingesperrt im Topf, kurz vor dem Überlaufen.

    Hansjörg Rogger

  • Die Welt ist zu komplex, als dass sie mit einfachen Denkmustern zu erklären ist

    Wenn die Jugend jetzt ihre Stimme erhebt, egal ob nun diese Stimme immer ehrlich gemeint ist, dann muss dies die Schule als Teil ihres Bildungsauftrages gutheißen. Gorbatschow hat vor 30 Jahren gesagt, dass die Gefahren auf jene warten, die nicht auf das Leben reagieren. Und das müssen wir unseren jungen Leuten lehren, dass nicht argumentationsloses Dagegensein die Gesellschaft weiterbringt, sondern dass sich konstruktive Lösungsalternativen in den Köpfen generieren müssen. 

    Und dazu braucht es Bildung. Bildung im Sinne von „Wachhalten flottierender Neugier, Lust am Erkennen, Freude am Schönen“, so wie dies der Philosoph Prof. Konrad Paul Liessmann fordert. Die Schule muss dabei helfen, und das geht nicht nur mit Pauken und Auswendiglernen. Wir sind schon beinahe an dem Punkt angelangt, wo wir uns Teilnahmslosigkeit nicht mehr leisten können. Wenn wir als Schule nicht genau hinhören und hinsehen, wenn wir nicht ernst nehmen, was sich um uns herum tut, dann wendet sich die Jugend von uns ab, sie verliert das Vertrauen in uns und unsere Institutionen. 

    Der Friedenspädagoge Werner Winterstein spricht das Beispiel der „global citizens“ an und plädiert für ein planetarisches Bewusstsein (Ö1,14.3.2019). Wie aber kommen wir dorthin, was müssen wir Schulen tun? Oder tun wir etwa schon genug? Allein über die Problematik zu reden, ist zwar besser als gar nichts, aber am Ende ist es doch viel zu wenig: „Am Anfang war die Tat“, sagt Goethes Faust. Und doch, Stellung beziehen dürfen, setzt die Spirale der Wertschätzung in Gang und bildet damit den Nährboden für konstruktive Beiträge, die der Gesellschaft nur gut tun können. Sich gegen extreme Maßlosigkeiten stellen, muss das Ziel von Bildung sein. 

    Und die Schule muss den Grundstock dafür legen, Autoritäten heranzuerziehen, die maßvoll und in Partizipation die Geschicke der Welt zu lenken haben werden. Die derzeitigen Spannungen und Probleme, die die jungen Leute auf die Straße treiben, sind nicht durch „precision politics“ zu lösen, sagt Sebastian Backup vom Wirtschaftsforum Davos in der Zeitschrift „Die Zeit“ Nr.10. Es braucht anders als bisher eine andere globale Architektur. Aber welche ist das? Das eigene Denken, den eigenen Zweifel wertgeschätzt zu bekommen? Ist es das? Widersprüche in sich selber entdecken, sie auszuhalten und nicht zu verleugnen? Vielleicht ist es das? 

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    Es braucht Demokratien, die ihre Kraft daraus ziehen, dass viele andere mitmachen und somit eher bereit sind, Entscheidungen mitzutragen, die ihren unmittelbaren Interessen widersprechen, sagt Sebastian Backup. Widersprüchlichkeiten im Zusammenhang mit der Umweltproblematik gibt es zuhauf. „Wir leben in Widersprüchen. Auch ich selbst“, sagt der Physiker und Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar in der „Zeit“ vom 14. März 2019. 

    Wohlstand und Fortschritt treiben uns immer weiter in diese Spirale hinein. Wohlstand und Fortschritt sättigen zu oft unreflektiert; es geht gut, also sorge ich mich nicht. Der europäische Flugzeugbauer Airbus beschäftigt 130.000 Mitarbeiter*innen (Die Zeit Nr.12). Es werden mehr, je mehr Flugzeuge bestellt werden, und damit werden mehr Familien ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Mehr Flugzeuge am Himmel bedeuten mehr Kerosin in der Luft, mehr Kerosin in der Luft erhöht das Risiko für das junge Leute auf die Straße gehen. Unser Denken muss die Fühler in alle Richtungen ausstrecken, sodass die Zukunft umwelt- und sozialverträglich gestaltet werden kann. Eine Denkrichtung allein ist unseriös und fahrlässig. 

    Johann Georg alias Hansjörg Rogger (Artikel veröffentlicht in der ff Südtirol, im April 2019)

  • Digitalisierung

    „Die Bereicherung der Persönlichkeit sei das eigentliche Kapital, mit dem SchülerInnen später in allen Berufen wuchern können.“ Dies schreibt Rainer Werner, Autor des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“ in einem Essay, veröffentlicht in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 17.2.2018. Und er zitiert den romantischen Dichter Jean Paul: „Was für die Zeit erzogen wird, das wird schlechter als die Zeit.“ Soll wohl heißen, so Rainer Werner, dass gute Bildung immer einen geistigen Überschuss, eine kleine utopische Verheißung enthalten muss.

    Dabei kommt es immer auf den an, der diesen geistigen Überschuss ermöglichen soll, auf den Menschen im Lehrer. Die Werkzeuge derer er sich bedienen kann, um den geistigen Überschuss in den Köpfen der jungen Menschen zu bewirken, ändern sich. Es sind und bleiben aber Werkzeuge. Auf sie kommt es erst in zweiter Linie an.

    Die Digitalisierung, das neueste Werkzeug, hat mit Bildung an sich nichts zu tun, mit dem geistigen Überschuss auch nichts. Der Zusammenhang könnte lediglich darin bestehen, dass durch die Digitalisierung die Inhalte, die die Bildung ausmachen, in die Breite gestreut werden. Der Zugang zu Bildungsinhalten ist demokratischer geworden, unbestritten gerechter. Damit aber nicht nur an der Oberfläche herumgetümpelt wird, damit nicht nur oberflächliche Sensationsgier befriedigt wird, damit die Chance eines interessanten Werkzeugs am Schopf gepackt wird, können Schulen abseits von SMS, WhatsApp, Instagram und Twitter die Technologie für ihre Zwecke nutzen.

    Ein Beispiel kann dies veranschaulichen. Wenn Verschwörungstheorien und falsche Nachrichten entlarvt werden sollen, wenn  uns passives Streaming und Konsumieren zu wenig ist, dann muss das Ruder selbst in die Hand genommen werden. Der Blog ist eine Möglichkeit, sagt Martin Spiewak, in der Zeit, Nr. 10/2018. 

    Seit 2016 pflegt das Sowimusikkunst-Gymnasium Bruneck Schreibblogs, in denen es um die Selbstinitiatve geht, um die Auseinandersetzung mit Sprache und darum, dass man für das, was veröffentlicht wird, die Verantwortung zu tragen hat. Dass die Betreuung solcher Blogs viele Möglichkeiten generiert, liegt auf der Hand: Erfahrungen mit der Netzetikette, Gegenpositionen zur „Schwarmdummheit“ (Martin Spiewak in: „Die Zeit“ 10/2018), die Übung in der Sprache und mit der Sprache, und nicht zuletzt die Übung in der Interaktion, abseits von Einwortsätzen und Emojis, abseits von zusammengekleistertem „Momentanwissen in Erregungszuständen“ (Spiewak, „Die Zeit“ 10/2018).

    Johann Georg (Hansjörg) Rogger/ 2018

  • Eine 2minütige Diskussion mit einer Maturantin zu ihrem Präsentationsthema / Note 10

    Was haben Märchen, Beispiel Aschenputtel, mit Dialektik, Hegel, Ying und Yang zu tun? Eigentlich gar nichts. Der Apfel ist ja auch keine Birne, oder? Stimmt! Und doch gibt es Gemeinsamkeiten, die man nicht auf Teufel komm raus konstruieren oder erfinden muss. Gut und böse bei Aschenputtel, ein dialektisches Paar. Man braucht nicht lange zu suchen auf unserer Welt, man findet überall das Helle und Dunkle, das Gute und das Böse, Spruch und Widerspruch. Eine gute Frage: Was wäre, wenn es das nicht gäbe? Nur das eine und das Gegenteil dazu nicht? Die Antwort darauf gibt es nicht, da es die Welt nicht gibt, wo sich so etwas finden lässt. (Rogger.hj, Mai 2018)

  • Eröffnung des Schuljahres 2016/17, Schuldirektor Hansjörg Rogger

    Eröffnung in der Pfarrkirche Bruneck, im September 2016